https://www.teilzeithelden.de/2022/03/18/rezension-die-fleischgaerten-von-carcosa-call-of-cthulhu-body-horror-und-wandersimulation/
Widerliche Kreaturen und der Kampf ums nackte Überleben – das Survival-Horror-Abenteuer Die Fleischgärten von Carcosa ist nichts für schwache Nerven. Gefangen in einer Welt aus menschlichen Eingeweiden gilt es, einen Ausweg zu finden, ohne wahnsinnig zu werden. Für wen sich die Herausforderung lohnt, erfahrt ihr hier.
Was als harmlose Aufgabe beginnt, kann schnell tödlich enden. Die Fleischgärten von Carcosa wirft die Charaktere in eine grausam pervertierte Welt, in welcher der König in Gelb regiert. Um von dort zu entkommen, müssen einige Strapazen und weite Wege überwunden werden. Das Szenario für Call of Cthulhu ist als Survival-Horror konzipiert und unterscheidet sich damit stark von anderen Abenteuern im Genre. Statt Ermittlungen, subtiler Anspannung und Interaktionen mit NSC stehen Überlebenstechniken und Kämpfe gegen schreckliche Wesen klar im Vordergrund.
Da vor allem die unübliche Spielwelt und Zusatzmechaniken den Reiz des Szenarios ausmachen, können in diesem Artikel Spoiler nicht vollständig vermieden werden. Unbefleckt mehr über das Reich des Königs in Gelb zu erfahren, ist ohnehin kaum möglich. Größere Überraschungen der möglichen Handlung werden in Spoiler-Kästen gekennzeichnet.
Ebenfalls im Abenteuerband enthalten ist das Szenario Das Gelbe Zeichen, welches pandemiekonform nur eine Spielleitung und eine spielende Person benötigt. Dieses beschäftigt sich ebenfalls mit dem König in Gelb und behandelt vor allem das Thema Einsamkeit. Einen ausführlichen Spieltest dazu gibt es in dieser Rezension nicht.
Die Spielwelt – Lebendige Fleischgärten
Widerlich, schaurig und beängstigend schön – die Fleischgärten sind das grausame Reich Hasturs, des Königs in Gelb. Geschaffen aus menschlichen Eingeweiden funktionieren die Gärten wie ein korrumpiertes Ökosystem. Das fängt bereits beim sogenannten „Schmelzboden“ an, der aus Haut und Fleisch in verschiedenen Tönen besteht und durch die schleimige Konsistenz jede Fortbewegung erschwert. Hinzu kommt der Mananebel, ein nach Verwesung stinkendes Gas, welches die Grundlage für die Existenz der Flora und Fauna der Welt bildet. Beispielsweise füllt es die Magenbäume aus, aus Gedärmen und Knochen geformte Gewächse. Oder es dient sogenannten Lungenschmetterlingen als „Nektarersatz“, wenn sie sich an den wortwörtlichen Hirnblumen nähren.
In den Fleischgärten gibt es ein eigenes, korrumpiertes Ökosystem.
Natürlich finden die gefährlichen Byakhee, riesige schwanenartige Insekten und Boten Hasturs, ebenfalls Platz in diesem unmenschlichen Reich. Wegen ihrer Einzigartigkeit ist die Welt ein klarer Pluspunkt für das Szenario.
Die Handlung
Als Erzählung erwartet die Spielenden nach einem eher generischen Einstieg, bei dem ein verschwundenes Buch zurückgebracht werden soll, eine offene Sandbox-Spielwelt. Das Ziel ist simpel: Entkommt lebend den Fleischgärten. Dazu gibt es ein paar Wege, die aber alle nicht ungefährlich sind. Die Grundhandlung, die sich am ehesten als eine Art Schnitzeljagd beschreiben lässt, findet ihr im Spoilerkasten.
Ein Ausschnitt aus dem Theaterstück.
An dieser Stelle noch ein Lob dafür, eine vollständige Fassung des Theaterstücks Der König in Gelb in das Szenario einzufügen. Nicht nur sind darin einige wichtige Hinweise für die Spielenden versteckt, die teilweise groteske Handlung fängt den sich anbahnenden Horror gut auf. Das Stück wurde im Laufe des Spieltests einmal von allen am Tisch in verteilten Rollen gelesen, was für viel Gänsehaut bei allen Beteiligten sorgte.
Die Regeln – Wandern bis zum Umfallen
Um die Fleischgärten besonders intensiv in Szene zu setzen, werden der Spielleitung für das Abenteuer neben den klassischen Call of Cthulhu-Regeln eine Vielzahl an zusätzlichen Regeln an die Hand gegeben. Denn so ziemlich alles, auf das die Charaktere treffen können, ist eine potenzielle Gefahr: Selbst zu lange in den Himmel zu schauen kann zu Halluzinationen führen. Nur mit genug Wasser, Essen und Schlaf ist an eine sichere Weiterreise überhaupt zu denken.
Zur besseren Darstellung sind im Abenteuer eigene Wanderregeln enthalten. Die Mechanik dahinter ist simpel: Nach jeder gewanderten Stunde sammeln die Charaktere unweigerlich einen Erschöpfungspunkt an. Wer drei Erschöpfungspunkte hat, kann nicht mehr weiterlaufen und muss rasten, um diese abzubauen. Während jeder gewanderten Stunde dürfen alle Charaktere einmal eine besondere Aktion durchführen, bei der auf ein Attribut gewürfelt wird. Die Aktionen erlauben es beispielsweise, einen Erschöpfungspunkt wieder zu streichen oder die Gruppe einen zusätzlichen Kilometer weiterwandern zu lassen. Durch die Regeln wird das Wandern schnell zu einem kleinen Minispiel für die Spielenden. Gemeinsam können sie überlegen, wer welche Aktion übernehmen möchte.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Ein Abenteuer in den Fleischgärten bedeutet vor allem eins: viel Vorbereitung für die Spielleitung. Um den Survival-Aspekt richtig zur Geltung zu bringen, müssen viele Informationen parallel beachtet werden. Das kann im schlechtesten Fall dazu führen, dass viel Rollenspiel und Stimmung wegen Regelmechaniken verloren geht. Hinzu kommt die nur lose ausgearbeitete Rahmenhandlung in einer Sandbox-Welt. Eine gewisse Spontanität schadet also nicht, um die Spielenden konzentriert zu halten. Positiv ist deshalb die Tabelle, mit der zufällig das Terrain bestimmt werden kann, sowie die Liste an zufälligen Begegnungen.
Insgesamt sind die Regelungen für das Wandern sehr schön ausgestaltet. Da für jedes Attribut eine passende Aktion vorgegeben ist, kann die Gruppe gemeinsam taktieren und so den ein oder anderen Kilometer zusätzlich herausholen. Das ist auch bitter nötig, denn vom Knochenbrunnen zu einem der speziellen, für die Handlung wichtigen, Orte ist der Weg lang. Die Idee, einen Kilometer Weg mit einer Stunde Wanderung gleichzusetzen, hakt an dieser Stelle etwas. Auch wenn der Morast-ähnliche Boden die Bewegung verlangsamt, wären wenigstens zwei Kilometer pro Stunde als Grundbewegung besser. Andernfalls laufen sich die Charaktere nur die Füße wund, ohne zwingend etwas Spannendes zu erleben.
Zum Thema Überleben gleich noch ein gut gemeinter Ratschlag: Die Spielleitung sollte die Gruppe nicht ohne Vorwarnung und Ausrüstung nach Carcosa schicken. Wenn die Charaktere kein Werkzeug haben, können sie mit den vorhandenen „Ressourcen“ nichts anfangen. Statt Survival-Spaß kommt eher Frust auf. Nicht mal Feuer ist ohne Weiteres möglich im ewig-feuchten Dunst der Fleischgärten. Auch bei der Bewaffnung sollte die Spielleitung angesichts der lebensfeindlichen Umgebung nicht sparsam sein.
Leider ist die Übersichtlichkeit eine der Schwächen des Szenarios. Grundsätzlich ist der Aufbau einheitlich angeordnet. Es gibt Abschnitte für die Haupthandlung, einen Katalog zur Flora und Fauna der Fleischgärten, Angaben zu wichtigen Orten, Leichen und der Regelübersichten. Allerdings fehlt ein Index, was das spontane Nachschlagen erschwert. Insbesondere, wenn etwas mehrfach erwähnt wird, ein spezielles Detail aber nur an einer Stelle zu finden ist.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Grundsätzlich fiel die Rückmeldung der Testgruppe weitgehend positiv aus. Der Horror und die ständige Bedrohung sorgen für viel Spannung und ein schauriges Grundgefühl. Auch das Design der Welt mit seinen makabren Kreaturen wirkt kreativ und abwechslungsreich. Dank des Fokus der Aktionen auf die Attribute können auch Charaktere, die sonst keine Überlebenskünstler:innen sind, wichtige Aufgaben für die Gruppe erfüllen und hervorstechen. Generell lässt das Abenteuer viel Platz für interne Gespräche zwischen den Spielcharakteren. Viel mehr bleibt den Personen am Tisch auch nicht übrig – immerhin gibt es neben dem König in Gelb und den Kreaturen nur zwei relevante NSC mit Sprechrolle.
Spielbericht
Als Einblick, wie eine mögliche Runde ablaufen könnte, gibt es eine kurze Zusammenfassung. Wer vom Abenteuer überrascht werden möchte, sollte diesen Abschnitt überspringen.
Um ein scheinbar gestohlenes Buch zurückzuholen, machten sich ein Soldat, ein Priester, ein Alkoholschmuggler, ein ehemaliger Boxer, ein Buchhalter und eine Sekretärin gemeinsam auf zu einer abgelegenen Ferienhütte. Mit passender Ausrüstung für einen anschließend geplanten Camping-Ausflug im Gepäck fanden sie schnell die Hütte und das Buch. Von Neugier getrieben begannen sie darin zu lesen…
Tatsächlich vergaßen, bis auf eine Person, alle Spielenden den Großteil der Ausrüstung mit in den Nebel zu nehmen, der sie nach Carcosa führte. So stolperten sie mit Waffen und einer Handvoll Munition in die Fleischgärten hinein und trafen nach ersten Anfällen des Wahnsinns auf den sterbenden Marcel. Eine Begegnung mit dem Herrn des Landes sowie eine Flucht später fanden sie den Knochenbrunnen, eine Karte der Umgebung und die Hinweise, wie sie entkommen konnten.
Die Gruppe begann mit einer mühevollen Reise zum Lager der Gelben Erkundung, wo sie weiteres Werkzeug und Hinweise fanden. Anschließend suchten sie den Muskelbaum auf und schafften es, eines der Herzen unbeschadet herunterzuschießen. Der Schuss rief insgesamt drei Byakhee auf den Plan, welche die Charaktere, dank sehr viel Würfelglück, töten konnten. Kurz darauf verstarb jedoch die Sekretärin bei einem Angriff eines Wolfes mit menschlichen Armen und Beinen.
Der Rest entschied sich, ihr Opfer zu nutzen und die übrigen Körperteile von ihr zu nehmen. Der Steuerberater konnte nicht mit dem Gedanken leben, eine unschuldige Person auszuweiden und verfiel in eine Raserei, die ihn letztlich selbst das Leben kostete. Mit genug „Material“ machten sich die Überlebenden wieder in Richtung Knochenbrunnen auf. Dort setzten sie alle Teile ein, um als letzten Schritt das Gesicht zu suchen.
Nach einer Reise voller Verirrungen im dichten Nebel der Hyaden, der außerhalb des Kartenbereiches liegt, wurde der Schimmernde Palast gefunden. Durch gutes Taktieren schaffte es die Gruppe, genug Masken zu finden und das Labyrinth wieder zu verlassen, ohne den König in Gelb auf sich aufmerksam zu machen. Zurück am Knochenbrunnen und durchnässt vom Blutregen setzten sie dem Leichnam die Maske auf. Als letzten Schockmoment trat der König in Gelb nochmal auf, bevor die lebenden Charaktere wieder in ihre Welt transportiert wurden.
Die vier überlebenden Personen mussten mit Schrecken feststellen, dass ihre Erlebnisse kein Traum gewesen waren. Der Soldat flüchtete in einem Anfall von Wahnsinn. Die übrigen entschieden sich dazu, das Ferienhaus samt dem gesuchten Buch lieber zu verbrennen und versuchten anschließend, mit einer ausgedachten Geschichte die Sache zu bereinigen.
Erscheinungsbild
Wie bei Pegasus üblich erscheint der Abenteuerband als leichter Softcoverband mit insgesamt 80 Seiten für die beiden Szenarien. Das sehr realistisch wirkende Titelbild unterscheidet sich stark vom restlichen, eher comicartigen Stil der Illustratorin Nora Back. Das mag von einigen eventuell als „Verniedlichung“ gewertet werden, lockert aber den sonst blutigen und Inhalt charmant auf.
In sieben aufwendig gestalteten Schwarz-Weiß-Bildern sind vier wichtige Orte, ein Investigator, eine Kreatur und der König in Gelb abgebildet. Schade ist, dass nicht mehr Lebewesen der Fleischgärten im Abenteuer abgebildet wurden, um so die Beschreibung zu erleichtern. Schön gestaltet sind ebenfalls die handschriftlich und mit Blutflecken übersäten Handouts. Was das Layout angeht, können die kleinen Infoboxen mit Ortsübersichten und Tabellen positiv hervorgehoben werden. Der bereits erwähnte fehlende Index bleibt jedoch insgesamt ein großer Kritikpunkt.
Fazit
Die Fleischgärten von Carcosa bricht mit dem Fokus auf Survival-Horror mit vielen Klischees typischer Call of Chtulhu-Abenteuer. Statt Ermittlungen und subtilen Andeutungen geraten die Charaktere in eine fleischgewordene Hölle, in der alles tödlich enden kann. Um herauszukommen, müssen sie zusammenarbeiten und ihre knappen Ressourcen sinnvoll einsetzen. Das Szenario besticht mit einem ausgefeilten Ökosystem schrecklicher Kreaturen und einer morbiden Grundstimmung. Wer auf Body-Horror steht, bekommt hier viel geboten. Positiv hervorzuheben sind zudem die durchdachten Wanderregeln und das berühmte Theaterstück Der König in Gelb als Handout.
Leicht zu leiten ist das Abenteuer im Sandbox-Format aber nicht. Die Spielleitung wird mit vielen wichtigen Angaben erschlagen, gleichzeitig fehlt jedoch der Index. Der Fokus kann sehr schnell auf der Mechanik liegen, was der Geschichte eher schadet. In diesem Sinne fühlt sich das Szenario streckenweise wie ein PC-Spiel an, nicht wie ein klassisches Pen-and-Paper-Rollenspiel.
Nicht zuletzt sind auch die behandelten Themen von Tod und Verstümmelung nichts für jede Spielrunde. Sollte die Gruppe aber Interesse an einer Herausforderung im Mythos-Universum haben, bekommen sie für den eher günstigen Preis des Abenteuerbandes hier viel geboten.
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