Variationen klassischer Regeln für ein klassisches Setting - eine Mephisto-Rezension
FHTAGN Regelwerk
Am unaussprechlichen Namen erkennt der Mythos-Kundige schnell, dass mit FHTAGN ein weiteres Rollenspiel vor dem Hintergrund von H. P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos vorliegt – der fiktiven Welt, für die es vermutlich bereits die meisten Rollenspielsysteme gibt. So stellt das FHTAGN Regelwerk selbst bereits in der Einleitung die Frage, ob wirklich noch ein weiteres Rollenspiel vor dem Cthulhu-Hintergrund nötig war. Doch in gewisser Weise gibt die Existenz des Regelwerks bereits die Antwort, denn die Deutsche Lovecraft Gesellschaft hat mit dem FHTAGN Regelwerk und der FHTAGN Spielwelt zwei Bücher ihrer Interpretation für ein Rollenspiel vor dem Hintergrund von H. P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos veröffentlicht. Dabei basiert FHTAGN im Kern seiner Regelmechanik zudem auf dem Prozentsystem des klassischen Cthulhu-Rollenspiels, geht aber an einigen Stellen eigene Wege. Es ist die erklärte Motivation der Autoren, bestimmte Mechaniken und Möglichkeiten anders abzubilden und das Rollenspiel auf den Kern von Lovecrafts Geschichten zu fokussieren – und sich dabei auch nur inzwischen gemeinfreier Quellen zu bedienen.
Wie für Cthulhu-Rollenspiele typisch, geht auch FHTAGN den Weg, das Grundregelwerk in zwei Bücher aufzuteilen. Zum einen gibt es das FHTAGN Regelwerk, das die Regeln, Charaktererschaffung und Ähnliches enthält und auch für die Spieler geeignet ist. Alle Geheimnisse und Schrecken des übernatürlichen Hintergrunds finden sich im für den Spielleiter bestimmten Band der FHTAGN Spielwelt. Das Regelwerk können die Spieler somit problemlos lesen, ohne etwas über den Hintergrund des Cthulhu-Mythos und die Geheimnisse der Welt kennenzulernen.
Nach einer kurzen Einleitung, um FHTAGN einzuordnen, in der auch kurz die üblichen Sicherheitstechniken wie die X-Karte oder Grenzen und Schleier erläutert werden, startet das Buch zunächst mit dem Thema Epochen und Settings. Dabei stellt es auf einem Zeitstrahl mögliche historische Settings vor, in denen man das Rollenspiel spielen kann, die von der Steinzeit bis in das nanotechnologische Zeitalter reichen. Während Epochen größere Zeitabschnitte bieten, sind die Settings darin eingebettete spezielle Hintergründe. So umfasst das Maschinenzeitalter als Epoche, die ungefähr 1880 startet, Settings wie das viktorianische Zeitalter, die Belle Époque, den Ersten Weltkrieg und die Goldenen Zwanziger. Diese Zeiten werden nur kurz vorgestellt, und es gibt eine kurze Übersicht des Technikniveaus. Fokus dieses Kapitels ist die Erklärung, wie mit verschiedenen Zeiten regeltechnisch umgegangen wird. Hierbei ist die Idee, dass sowohl die Berufe, die Charaktere annehmen können, als auch die Fertigkeiten generisch genug definiert sind, dass sie sich für viele Zeitepochen problemlos übernehmen lassen, wenn sie in den entsprechenden Kontext einsortiert werden.
Zudem werden hier zwei Spielmodi vorgestellt, der Mystery Modus und der Action Modus, für die dann in den weiteren Kapiteln Regelvarianten angeboten werden, um die Atmosphäre des Spiels anzupassen. So ist insbesondere das Thema Stabilität im Mystery Modus deutlich weniger hart für die Spielercharaktere, während der Action Modus eine höhere Überlebenschance im Kampf zu bieten hat.
Die Charaktererschaffung bei FHTAGN basiert auf sechs Attributen und diversen Fertigkeiten. Hinzu kommen abgeleitete Werte, wie Trefferpunkte, Willenskraftpunkte, Stabilitätspunkte und die sogenannte Belastungsgrenze. Charaktere werden primär durch ihre Berufe und ihre Bindung definiert. Wie beim klassischen Cthulhu-Rollenspiel bestimmen die Berufe der Charaktere deren Startfertigkeiten und erlauben die Wahl weiterer Fertigkeiten, um den Charakter entsprechend zu verfeinern. Außerdem definiert der Beruf die Zahl der entsprechenden Bindungen, womit Personen abgebildet werden, die für den Charakter wichtig und die in diverser Hinsicht hilfreich sind. Das Regelwerk bietet eine Reihe Berufe, die relativ breit interpretierbar sind, sodass etwa die Gesetzeshüterin von der Parkrangerin bis zur Streifenpolizistin eine große Bandbreite umfasst oder auch die Naturwissenschaftlerin alle möglichen Felder abdecken kann. Jeder Beruf wird mit einer kurzen Hintergrundbeschreibung eingeführt, die illustriert, wie ein solcher Charakter in die Mythos-Geheimnisse hineinrutschen kann. Danach werden die Berufsfertigkeiten und Bindungen festgelegt, was einen schnellen Einstieg für die Charaktererschaffung bietet. Die Berufe bieten die üblichen Verdächtigen, die man von Cthulhu-Rollenspielen kennt, und auch die Fertigkeiten sind typisch. Etwas auffällig ist jedoch, wie viele Charaktertypen die Möglichkeit haben, die Fertigkeit Militärwissenschaft zu nehmen, die theoretisch in einem Cthulhu-Setting nur begrenzten Wert haben sollte.
Die Fertigkeiten werden jeweils kurz beschrieben, und als Zusatz gibt es hier die sogenannten Spezialtrainings, die notwendig sind, um diese Fertigkeiten in besonderer Art einzusetzen oder auch dafür Attribute zu verwenden. Spezialtrainings können exotische Waffen, aber auch ungewöhnlichere Fertigkeiten wie Fallschirmspringen als Teilaspekt der Athletik oder Ähnliches umfassen.
Ein weiterer wichtiger Charakteraspekt sind die Bindungen, die nicht nur Kontakte des Charakters sind, sondern ihm auch dabei helfen, seine Menschlichkeit und damit seine Stabilität zu bewahren. Abhängig vom Beruf definiert der Spieler mehrere dieser Bindungen, die einen entsprechenden Zahlenwert bekommen, der dann sinken kann, wenn diese Bindungen stark benutzt werden. Dies bildet eine Entfremdung mit der Bindung ab, was jedoch durch entsprechende Zwischenaktionen kompensiert werden kann. Wenn für den Spielercharakter noch ein paar Hintergrunddinge definiert und gegebenenfalls Facetten ausgesucht werden, ist der Charakter schon fertig. Facetten sind zusätzliche Lebensumstände, wie dass ein Charakter arm oder gläubig ist oder ein Handicap hat. Facetten bedeuten, dass der Charakter einerseits Vorteile bekommt, andererseits aber auch entsprechend Nachteile erhält. So liegt der Vorteil bei einem armen Charakter darin, dass er eine zusätzliche Bindung bekommt, gleichzeitig werden aber finanzielle Ausgaben erschwert. Hinzu kommen noch die Motivationen, die definieren, was den Charakter antreibt, wobei auch diese Motivationen durch die Erosion durch den Mythos verloren gehen können.
Nach der Charaktererschaffung werden die Regeln vorgestellt, wobei die Proben Prozentwertproben sind. Für Attributsproben wird deren Wert vorher einfach mit fünf multipliziert, um ebenfalls Prozentwürfel einzusetzen. Neben Erfolgen und Fehlschlägen gibt es kritische Erfolge und Patzer, die bei Extremwerten oder jeweils Paschwerten auftreten. Zusätzlich stellt das Spiel die Glückswürfe vor, die jedoch nicht mit einem Spielwert zusammenhängen, sondern einfach eine 50:50-Chance bieten.
Nachdem die grundsätzlichen Regelmechanismen erklärt werden, werden diese für Verfolgungsjagden und für Kämpfe besonders ausgearbeitet. Zudem nutzt das Spiel Willenskraftpunkte, mit denen sich Stabilitätsverluste, Störungen usw. unterdrücken lassen, sowie Regeln für Erschöpfung, die den Charakter vorübergehend schwächt.
Die Kampfregeln nutzen das typische Prozentsystem und zusätzliche Manöver wie Entwaffnen, Ausweichen etc. Hierbei gilt, dass die Spielercharaktere relativ wenig Trefferpunkte haben, sodass Kämpfe schnell tödlich sein können, insbesondere wenn Feuerwaffen im Spiel sind. Zudem verursachen Lebenspunktverluste schlimmstenfalls bleibende Schäden, was den Charakter weiter schädigt. Hier bietet der Action-Modus Regelanpassungen, die diesen dauerhaften Schaden etwas reduzieren, um Charaktere länger im Spiel zu halten.
Bei den Waffen gibt es eine besondere Regel, dass schwere Waffen einen Tödlichkeitswert haben, was einem Prozentwert entspricht, bei dem ein Treffer automatisch tödlich ist. Auch wenn die Tödlichkeit nicht greift, haben diese Waffen in der Regel dann einen regulären Schaden, der in vielen Fällen einen Charakter ausschalten dürfte. Natürlich werden auch andere Bedrohungen wie Gifte und Krankheiten, Ersticken, Feuer, Kälte und Radioaktivität vorgestellt. Auffällig bei diesem Kapitel ist, dass die Krankheiten und Gifte zum Teil in ihrer Wirkung relativ ähnlich sind. Auch suggerieren die Kampfregeln mit ihren Regeln für Tödlichkeit usw., dass die Spielercharaktere sich den cthulhoiden Schrecken mit schweren Waffen stellen können, wo die Realität jedoch häufig ist, dass sie weder diese Waffen besitzen noch diese besondere Wirkung hätten.
Ein weiteres zentrales Kapitel dreht sich um die geistige Stabilität, um den mentalen Verfall abzubilden, den Charaktere bei der Konfrontation mit dem Mythos erleiden. Hier gilt die klassische Regel: Wird die Stabilität eines Charakters angegriffen, würfelt er auf diesen Wert, und wenn die Probe misslingt, wird die Stabilität weiter reduziert. Wenn zu viel Stabilität auf einmal verloren wird, erleidet der Charakter einen temporären Kontrollverlust und wenn seine Stabilität unter die Belastungsgrenze sinkt, tritt eine Störung auf, die permanent ist und sich in extremen Situationen manifestieren kann.
Hierbei unterscheidet das Regelsystem drei Bedrohungen für geistige Stabilität, nämlich zum einen durch erlebte oder zugefügte Gewalt, durch Hilflosigkeit und durch Übernatürliches. Die Regeln sehen dabei vor, dass Charaktere, die sich mehrfach gut gegen Stabilitätsverluste durch Gewalt oder Hilflosigkeit wehren können, schließlich eine Abhärtung bekommen, die sie gegen weitere Verluste stabiler macht, andererseits aber ihre Bindungen schwächt, da sie Persönlichkeitsveränderungen erleiden. Natürlich gibt es eine Reihe Störungen, die je nach Quelle des Stabilitätsverlustes ausgewählt werden können, wobei hier die Liste deutlich kürzer und kompakter als bei anderen Rollenspielen ist, dafür aber gut zu dem entsprechenden Setting passt.
Ein zentraler Punkt des Spiels ist natürlich auch die Fertigkeit Unnatürliches Wissen, wie sie hier heißt, die sich um die Kenntnis der Wahrheit des Cthulhu-Mythos dreht. Und auch hier gilt, dass dies eine Fertigkeit ist, die häufig durch Konfrontation mit dem Mythos erworben wird und gleichzeitig die Stabilität entsprechend einschränkt. Wie üblich kostet das Lesen von entsprechenden Wissensquellen zu unnatürlichem Wissen die Charaktere Stabilität, genauso wie die Durchführung von Ritualen. Eine Besonderheit ist hier, dass Stabilität negativ für das Durchführen von Ritualen ist. Das heißt, je stärker die Stabilität eines Charakters ausgeprägt ist, desto schlechter sind seine Chancen für Ritualmagie.
Das Kapitel Zwischenszenen beschäftigt sich hauptsächlich damit, wie die Zeit zwischen den Abenteuern genutzt werden kann, um bleibende Schäden oder Störungen abzuhandeln und wie sich Bindungen weiterentwickeln. Hierfür gibt es eine Reihe von Freizeitbeschäftigungen, die mit einer Probe abgehandelt werden können und im Idealfall diese Werte verbessern oder stabilisieren, im Problemfall aber weitere Schäden nach sich ziehen, weil etwa Bindungen noch weiter abbröckeln.
Das abschließende Kapitel dreht sich um Ausrüstung, wobei hier der Fokus auf Ausgabenkategorien zur Einordnung der Kosten liegt. Ziel ist es hier nicht Buchhaltung zu betreiben, sondern bei der Beschaffung von Ausrüstung durch Spesen, Gefallen, Schwarzmarkt oder eigenes Geld pragmatisch zu entscheiden, welche Sachen verfügbar sind und welche Folgen der Erwerb hat. Zudem gibt es natürlich Listen von Nahkampf- und Fernkampfwaffen, die hier jedoch generisch beschrieben sind, sowie auch Körperpanzerung und Körpermodifikationen, also Implantate, die in einem futuristischen Setting zum Tragen kommen. Fahrzeuge werden nur kurz behandelt.
Auf den ersten Blick ist das FHTAGN Regelwerk sehr stark mit dem klassischen Cthulhu-Rollenspiel verwandt, weil der Grundtenor und viele Grundmechaniken hier übereinstimmen. Andererseits geht FHTAGN in einigen Punkten andere Wege und variiert das Thema Stabilität. Mit den Bindungen bietet es einen zusätzlichen Faktor, der abbildet, wie sich langfristige Cthulhu-Ermittler immer mehr von ihrer Umgebung entfremden oder diese Verbündeten und Freunde eventuell helfen können, nicht in den Wahnsinn abzugleiten. Auch dieser wird hier etwas pragmatischer herübergebracht.
Somit kann man FHTAGN als Spin-off des klassischen Cthulhu-Regelwerks sehen, das einige der Regelmechaniken etwas verändert und einige Konzepte anders abbildet. Der Regelkern basierend auf dem Prozentsystem, Schaden durch verschiedene Schadenswürfel, Fertigkeiten nach Berufen und geistige Stabilität finden sich hier aber auch wieder. An einigen Stellen wie den Berufen, Fertigkeiten und der Ausrüstung fokussiert sich das Buch auf weniger Optionen, was praktisch sein kann. Während FHTAGN für sich in Anspruch nimmt, stark auf den Kern von Lovecrafts Geschichten zu fokussieren, wirken dann Konzepte wie Tödlichkeit für schwere Waffen aus dem Kampfkapitel sonderbar, da die Ermittler, die sich dem Mythos stellen, selten über solche Ressourcen verfügen.
Von der Aufmachung ist das Regelwerk pragmatisch und nutzt vorwiegend freie Stockfotos zur Illustration, was manchmal etwas generisch wirkt. Welche Regelbasis besser zum eigenen Spielstil passt, hängt an der Spielrunde: FHTAGN ist das reduziertere Regelwerk, was mit den Regeln die Atmosphäre ein wenig verschiebt. Das klassische Cthulhu bietet hier viel mehr Material und ist von der Aufmachung auch deutlich opulenter. Mit dem gleichen Regelkern ist es jedoch einfach, Abenteuer oder Regeln von einem für das andere System zu adaptieren oder sich die Teile, die einem am besten gefallen, zusammenzuführen.
(Björn Lippold)
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