Cthulhu ist erwacht - eine Mephisto Rezension
Das grausame Reich Tsan Chan
Während die meisten bisherigen Cthulhu-Publikationen historische Zeitepochen thematisieren, geht Das grausame Reich Tsan Chan einen anderen Weg. Hier wird das Setting ins Jahr 5000 verlegt, in dem die Welt zu einer „vom kosmischen Grauen überfluteten Hölle“ geworden ist. Cthulhu ist erwacht, und während bei seinem Erwachen in den 1920ern nur einige sensible Seelen an den Rand des Wahnsinns getrieben wurden, hat sein richtiges Erwachen die Welt ins Chaos gestürzt. Der Großteil der Menschheit hat sich in wahnsinnige und blutdürstige Monster verwandelt. Nur in der Region des heutigen Chinas ist ein kleines Reich übrig geblieben, dass sich vor dem Wahnsinn schützen konnte. Durch die ungewöhnliche Allianz der Todlosen mit den Schlangenmenschen – und später noch anderen Mächten – konnte der den Wahnsinn verbreitende Traum Cthulhus ausgesperrt werden. Entsprechend werden die späteren Generationen dieser Überlebenden die Traumlosen genannt, die von den Fieberträumen des Großen Alten nicht berührt wurden. Tsan Chan ist das letzte Rückzugsgebiet der Menschheit vor den unzähligen Schrecken, die nun frei über die Erde marodieren – doch die Menschen zahlen dafür einen hohen Preis. Tsan Chan ist eine drakonische Diktatur, angeführt von einer wuchernden Mythos-Mutation, im Hintergrund von den Todlosen und Schlangenmenschen geleitet. Das Leben in Tsan Chan basiert auf einem Verhaltenskodex, der nur der Weg genannt wird und von dem abzuweichen den Tod bedeutet. Während ein Großteil der technischen Errungenschaften der Menschheit lange vergangen ist, gehört Magie zum täglichen Dasein, während am Rande des Reiches die verschiedenen Feinde immer wieder versuchen, die letzte Bastion der Menschheit zu überrennen.
Das grausame Reich Tsan Chan ist eine Kombination aus Quellenband und Abenteuer. Zunächst erzählt das Buch die Ereignisse bis ins Jahr 5000, und diese Zusammenstellung erinnert ein wenig an die Frühzeit des Cthulhu-Mythos, in der sich diverse Mythos-Rassen und Kreaturen auf der Erde tummelten und Kämpfe lieferten. So sind sowohl Cthulhu und seine wahnsinnigen Anhänger als auch die Älteren Wesen, die Shoggothen, die Mi-Go, die Tcho-Tchos, die Tiefen Wesen, die Ghoule und andere Kreaturen offen auf der Erde unterwegs. Das Reich Tsan Chan wird wiederum durch eine Allianz der Todlosen mit den Schlangenmenschen beherrscht und verfügt über Adelshäuser, die durch Mythos-Mutanten geführt werden und aus deren Reihen auch die Imperatorin stammt. Das Leben in Tsan Chan ist hart und brutal und geprägt durch Misstrauen und Paranoia, um Gefahren zu erkennen und diese schnell ausradieren zu können. Das Buch nimmt sich die Zeit, nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gesellschaft zu beschreiben und auch die verschiedenen Optionen für Spielercharaktere zu erklären. Eine regeltechnische Besonderheit ist der Weg, der die geistige Stabilität ergänzt und dabei hilft, trotz des grassierenden Wahnsinns die Spielercharaktere nicht binnen kürzester Zeit unspielbar werden zu lassen. Zudem werden einige Abenteuerideen, die sich häufig um eine Art Inquisition gegen den Mythos drehen, eingestreut.
Das Abenteuer Stillwater Rapids erscheint zunächst als Bruch, denn hier landen die Investigatoren aus der heutigen Zeit in einer sonderbaren Stadt, in der das Leben scheinbar einfacher ist, unter deren Fassade jedoch ein finsteres Geheimnis schlummert, das es zu erkunden gilt. Hier wird der Bezug zu Tsan Chan zumindest den Spielern vermutlich erst am Ende klar.
Auch wenn Das grausame Reich Tsan Chan gut ausgearbeitet ist und ein an sich interessantes Setting bietet, konnte mich das Buch nicht überzeugen. Die Welt 5000 Jahre in der Zukunft, die vom Mythos überrannt ist, erscheint mir nicht als attraktives Spielsetting, insbesondere da noch mehr als bei anderen Cthulhu-Publikationen der Kampf gegen den Mythos komplett sinnlos geworden ist. Zudem ist die Welt so fremdartig, dass sie trotz der ausführlichen Ausarbeitung immer noch vage bleibt und ein wenig an ein Fantasy-Setting erinnert. Ähnlich zwiespältig ist das Abenteuer aus meiner Sicht. Die grundsätzliche Story und Idee, sowie auch deren Umsetzung sind durchaus gelungen – der Bezug zum Quellenteil ist aber so vage, dass dieser dafür gar nicht nötig gewesen wäre. Auch klärt das Abenteuer nicht wirklich auf, wie man in der fremdartigen Welt von Tsan Chan wirklich spielen soll. Wer für Cthulhu ein wirklich ungewöhnliches und explizites Mythos-Setting sucht, sollte einen Blick auf diesen Band werfen. Wer jedoch der Meinung ist, dass Cthulhu sich durch den subtilen Horror auszeichnet, der unter unserer Realität lauert, der wird mit diesem Band nicht warm werden.
(Björn Lippold)
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