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Feuer frei ist die erste Regelerweiterung von Shadowrun 6 und in etwa vergleichbar mit dem Kreuzfeuer der vorangegangenen Edition. Alles in diesem Buch soll Chummern helfen, anderen das Fressbrett neu zu gestalten: Waffen, Modifikationen, Kampftechniken, Vor- und Nachteile. Zusätzlich widmet sich das Regelwerk ausführlich dem Thema Gewalt und ihrer Konsequenzen.
Inhalt
In der Tradition der Arsenale aus der 3. und 4. Edition bzw. dem Kreuzfeuer (Run & Gun, nicht Fields of Fire) der 5. werden die Grundregeln der 6. Edition ebenfalls früh durch Waffen und andere Dinge ergänzt, mit denen man verheerenden Schaden an potenziellen Gegnern verursachen kann. Hinzu kommen taktische Elemente und Edge-Handlungen, aber auch neue Status. Ein umfangreicher Bereich beschäftigt sich mit Gewalt, wie und wann man sie anwendet und welche Folgen sie haben kann. Ein Überblick über einige kampfbereite Parteien (und damit verbundenen NSC) im Shadowrun-Universum bildet den Abschluss, der durch eine Tabellensammlung abgerundet wird.
Waffenregal
Auf den ersten Seiten findet sich das eigentliche Arsenal: Waffen über Waffen füllen mehr als 35 Seiten. Hier gibt es Nahkampfwaffen wie das von Gurkhas getragene Kukri oder den taktischen Hammer, der in jeder Verkleidungskiste für vermeintliche Handwerker*innen willkommen sein sollte, wenn es heißt: „Wir sind das Service-Team und müssen dringend etwas reparieren.“ Auch Schusswaffen jeglicher Fasson sind hier zu finden.
Die Waffenauswahl ist groß: Es gibt Nahkampfwaffen wie den Taktischen Hammer, …… schwere Pistolen (hier die HK P60 Tactical) …
… oder Schrotflinten (hier die Defiance T-285).
Es wurde sich zwar Mühe gegeben, Unterschiede herauszuarbeiten und mit sehr gelungenen Beschreibungstexten jeder Waffe eine besondere Einzigartigkeit zu verleihen, doch die wichtigsten Unterschiede bleiben der Schaden und die Angriffswerte. Die Spanne dieser Werte ist gerade im Schadensbereich aber eher gering und nicht immer nachzuvollziehen.
Auch größere und besondere Waffen wie die Ares Scylla gibt es, doch manche Klassiker fehlen.Reichen solche Unterschiede zwischen Waffen einer Kategorie, um die Waffenwahl wirklich interessant zu machen?
Karabiner werden als optionale Waffenklasse eingeführt, die klassische Vindicator ist hingegen nicht vertreten. Dafür gibt es witzige Waffen wie die Ares Scylla, mit der man Blitze verschießen und Gegner grillen kann. Auch als Kommlink getarnte Waffen oder Schmuck, der Licht mit Blendgranatenwirkung abstrahlen kann, gibt es. Die Liste ist noch um vieles erweiterbar, und selbst, wenn die blanken Zahlen nicht überzeugen, macht die Vielfalt der Waffen Lust darauf, sie in den verschiedensten Situationen einzusetzen.
Waffenanpassungen
Waffen können mit Zubehör oder mit Modifikationen angepasst werden. Zubehöre werden an Halterungen angebracht, Modifikationen verbrauchen Slots. Es gibt Schulterstützen und Metamenschen-Anpassungen, man fügt Griffe hinzu oder verändert Beschichtungen. Waffenfans werden ihre helle Freude daran haben, ihre Waffen so individuell wie möglich zu gestalten. Die Waffe von der Stange im Hosenbund ist eben etwas anderes als die rutheniumbeschichtete Ares Predator VI mit Lasermarkierer, die im Schnellzieh-Tarnholster steckt, oder das Scharfschützengewehr mit ausgebautem Abzug und biometrischem Waffenschloss.
Waffen können unter anderem durch eine Laufverkürzung angepasst werden.Der Geckogriff ist ein Klassiker und wird sogar vom berühmten Butch genutzt.
Eine wichtige Notiz ist, dass das interne Smartgunsystem im Grundregelwerk als Zubehör gelistet wird, aber als Modifikation gehandhabt werden muss. Die Begrifflichkeiten wurden wohl nicht vorausschauend geplant, doch regeltechnisch ergibt das natürlich Sinn, wenn man der Definition im Feuer frei folgt.
Panzerungen
Als Gegenpol zu den Waffen gibt es selbstverständlich auch neue Panzerungen und – vielleicht viel wichtiger – eine neue Regel für diese. Vorweg sollte jedem klar sein, dass Panzerungen keinen Würfelpool zum Abbau von Schaden mehr geben, sondern lediglich den Verteidigungswert verändern, der dann mit dem Angriffswert der Gegenpartei zur Edge-Generierung verglichen wird. Je nach Spielstil kann es also sogar nützlich sein, ohne oder zumindest mit sehr wenig Panzerung auf einen Job zu gehen und diese nur der Kapazität wegen zu nutzen.
Die Ares „Bug Stomper“ MK II ist eine einschüchternde Panzerung und wurde für den Kampf gegen Insektengeister entwickelt.Reaktive Panzerung könnte massive Auswirkungen auf das Gameplay haben.
Es gibt einiges neues Zubehör und auch Modifikationen für Panzerungen – teilweise beeinflussen sie dieses System. So kann reaktive Panzerung Schaden absorbieren und hat erst Nachteile, wenn es mehr als ein Schadenspunkt pro Runde ist (Gelweave) oder wird dabei zerstört (reaktive Panzerplatten). Noch besser sind Panzerungen mit dem Merkmal „schadenssenkend“, die genau das tun: Sie senken den eingehenden Schaden um den entsprechenden Wert. Ohne Probe. Sogar manablockende Panzerung ist möglich! Diese Modifikationen könnten Gamechanger sein.
Durch den Sozialwert wird modische Panzerung besonders interessant.
Eine weitere Neuerung ist der Sozialwertmodifikator, der den Panzerungen in Feuer frei verliehen wurde. Der neue Sozialwert ist eine Art Angriffs- und Verteidigungswert bei Sozialproben, ergibt sich aus dem Charisma-Attribut und dem Sozialwertmodifikator der Panzerung und ist für die Edge-Berechnung relevant. Je weiter im negativen Bereich der Sozialwertmodifikator ist, desto bedrohlicher die Panzerung, was bei Einschüchterungsversuchen gut und bei allen anderen sozialen Konflikten von Nachteil ist. Im positiven Bereich verhält es sich andersherum. So lohnt sich das schöne Kleid auf dem Ball und verhilft zu mehr Edge beim Verführen, während der Chummer in gehärteter Militärpanzerung eine selbstverständliche Bedrohlichkeit ausstrahlt. Ob es einen weiteren Vergleich von Werten im System benötigt, muss man selbst entscheiden.
Das 1×1 der Taktik
Die Fertigkeit „Taktiken kleine Einheiten“ ist ein Klassiker für Ex- oder Para-Militärs, ehemalige Polizistinnen oder Charaktere mit sonstigen Ausbildungen, die in diese Bereiche passen. Die Umsetzung dieses Wissens ist jedoch oft problematisch. In diesem Kapitel soll Abhilfe für diese Problematik geschaffen und gerade neuen Spielerinnen und auch der SL ein Leitfaden an die Hand gegeben werden, wie man taktische Entscheidungen in Shadowrun fällt.
Mit der richtigen Taktik lassen sich ausweglose Situationen vermeiden.Durch den Einsatz von „Taktik kleiner Einheiten“ können gemeinsame Kampfmanöver ausgeführt werden.
Die Wissensfertigkeit hat nun auch regeltechnisch klare Auswirkungen und kann gezielt eingesetzt werden, indem man sich auf Kampfmanöver einigt und diese als Team umsetzt. Flankenmanöver oder ein gemeinsamer Rückzug werden so zur Teamaufgabe. Wenn die Umsetzung klappt, erreicht man ein höchst professionelles Vorgehen, was sicher Freude an den Spieltisch bringen kann. Zwar wurde auch in Vorgängereditionen Taktik als Element behandelt, in Feuer frei ist dies aber besonders gelungen.
Dieser Eindruck wird durch die mobilen taktischen Netzwerke, die eine Vielzahl an Verbesserungen für das gemeinsame Vorgehen bieten, unterstützt. Runner mit einem Faible für solche koordinativen Gemeinschaftshandlungen kommen voll auf ihre Kosten. Das gesamte Kapitel bietet überraschend viele Möglichkeiten.
Harte Kämpfe
Da das Edge-System Kernelement dieser Edition ist, führt Feuer frei auch neue Edge-Handlungen und -Boosts ein. Sie sind dem Wesen des Regelwerkes nach kampforientiert, doch wenn jedes weitere Regelwerk neue Handlungen und Boosts einführt, könnte einen das noch mehr erschlagen, als es das ohnehin schon tut.
Feuer frei führt auch neue Edge-Handlungen ein.
Interessanter sind da die Kampfkünste. Auch in Shadowrun 5 wurden diese im Kreuzfeuer eingeführt, und viele Nahkampf-Adeptinnen oder -Sams, sogar Infiltratoren oder Faces, nutzten die Kampfkünste, um der Klopperei etwas mehr Würze oder Finesse zu verleihen. Die Auswahl ist nicht überwältigend, und manche Techniken beziehen sich wieder nur auf den Gewinn von Edge oder die Reduzierung von Kosten der Ressource, aber gerade der Meridianschlag, mit dem man Magierinnen als Adept*in Nettoerfolge für die nächste Magieprobe negieren oder Techniken, mit denen man den neuen Status gelähmt hervorrufen kann, sind es wert, beachtet zu werden.
Die Freuden der Gewalt
Wann ist es richtig oder effektiv, mit Gewalt vorzugehen, und wann eher nicht, um als professioneller Runner seinen Job zu erledigen? Wie funktioniert Gewalt eigentlich? Das sind spannende Fragen, die in diesem Kapitel geklärt werden sollen. Dazu kommen passende Ehrenkodizes, wie die aus etlichen Mafiafilmen bekannte Schweigepflicht (Omertà) oder der Kodex der Paladine, einem elfischen Ritterkodex.
Der Kodex der Paladine ist ein Elfenkodex.
Auch der Nachteil „Pazifist“ wird wieder eingeführt und das Thema Gewalt mit der Spielmechanik Reputation verknüpft. Das Kapitel ist erneut eine Überraschung und äußerst spannend. Hier kann man viel über Außenwirkung von Runnern lernen oder sich Gedanken dazu machen, wie die Werte und Normen eines Charakters bei Gewaltanwendung sind.
Gewalt und ihre Konsequenzen
Niemand ist vor Traumata gefeit – nicht einmal Runner.
Von der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS) hat jeder schonmal gehört, aber wie viele Runner hatten so etwas schon? Nachdem sich im vorigen Kapitel über den Ursprung und den Sinn von Gewalt Gedanken gemacht wurde, geht es in diesem Teil von Feuer frei um die Folgen dieser. Traumata können jeden treffen, auch Runner. Um festzustellen, ob Runner Folgen erleiden, wird die Resilienzprobe eingeführt. Sollte man bei dieser letztlich scheitern, können Nachwirkungen bestehen bleiben.
Diese Nachwirkungen können sich in einem Nachteil äußern, von denen es einige im Regelwerk gibt, die entweder neu oder angepasst sind. Natürlich können auch Nachteile aus dem Grundregelwerk genutzt werden. Ein besonders brutales Insektengeistmassaker könnte also in einer Insektenphobie enden oder zwanghaftes Verhalten hervorrufen.
Eine weitere Möglichkeit zur Charakterentwicklung sind die emotionalen Pfade. So kann der Bruch eines Kodexes einen auf diese Pfade führen, oder der Weg zum inneren Gleichgewicht, Zen, ist eine Bewältigungsstrategie. Teils können diese Wege während der Erstellung gewählt werden. Sie geben Profil und sind eine Hilfestellung, grundsätzlich aber nichts Neues, sondern in eine unterstützende Form gegossene Charakterentwicklung.
Kämpfende Truppen
NSC der allseits bekannten und „beliebten“ Seattler Straßengang Halloweeners finden sich neben anderen so genannten kämpfenden Truppen im Buch.
Den Abschluss des Regelwerkes bilden nützliche NSC für die SL, die sich in meinen Runden, in der der Abenteuerband 30 Nächte und 3 Tage gespielt wird, bereits als nützlich erwiesen haben, und die übliche Sammlung der im Buch enthaltenen Tabellen.
Erscheinungsbild
Die Regelwerke der sechsten Edition sind in einem hellen grau-blau gehalten, was auch für Feuer frei gilt. Das Titelbild von Benjamin Giletti zeigt einen Schusswechsel in einer Stadt, im Vordergrund steht ein mit einem Schwert und einer Schnellfeuerwaffe bewaffneter, vercyberter und gepanzerter Mensch, dahinter eine leicht bekleidete Orkin mit Sonnenbrille und zwei Pistolen. Drohnen fliegen umher und Schüsse sind angedeutet. Im Hintergrund prangt auf einem Gebäude das Logo von Ares, einem Triple-A-Konzern, der für seine Waffenherstellung bekannt ist.
Der Stil des Covers ist ansprechend, die Farbgebung vielleicht etwas zurückhaltend. Die Struktur im Buch ist sehr durchdacht, und im wichtigen Waffen- und Panzerungsbereich sind viele Illustrationen zu finden. Das Inhaltsverzeichnis trägt maßgeblich zur Übersichtlichkeit bei, leider gibt es wie gewöhnlich keinen Index. Dort, wo weniger Bilder zu finden sind, wurde mit Kästen und Zwischenüberschriften gearbeitet, sodass sich Feuer frei durchweg angenehm liest.
Fazit
In Feuer frei für die sechste Edition von Shadowrun geht es rund um Gewalt: Waffengewalt, körperliche Gewalt, Gewalt und ihre Folgen. Wer ähnliche Werke aus den anderen Editionen Shadowruns kennt, konnte sich den Inhalt also mit viel Feuerkraft ausmalen. Das Versprechen erfüllt das Regelwerk in vollem Umfang. Es gibt viele Nahkampf- und Schusswaffen sowie Panzerung zur Verteidigung gegen diese. Dazu kommt eine Vielzahl an Zubehör und Modifikationen. Wenn man lange genug bastelt, können die Waffen von den Werten her auch maßgeblich unterschiedlich aussehen. Ohne Mods liegen sie doch nah beieinander.
Was die Waffen besonders macht, sind die Beschreibungstexte.
Einige Regeländerungen bzw. -optionen sind auch vertreten: soziale Werte für Panzerungen, um Edge in Sozialkonflikten zu berechnen, eine starke Veränderung des Kampfes durch die Möglichkeit zur Schadensabsorption mit Panzerungsmodifikationen, neue Edge-Handlungen und -Boosts. Noch mehr Regelwust und Edge-Geschiebe, doch bedient es natürlich die Kernelemente des Systems.
Um ein Vielfaches spannender ist die Umsetzung der altbekannten Wissensfertigkeit „Taktiken kleiner Einheiten“, die ein gemeinschaftliches und professionelles Vorgehen ermöglicht. Dazu gesellen sich die besten Kapitel des Regelwerkes, in denen es um das Wesen von Gewalt und ihrer Auswirkungen geht. Die Beleuchtung dieser Aspekte, gemeinsam mit Vor- und Nachteilen und einer Einbindung in das Reputationssystem sind die rollenspielerischen Stärken von Feuer frei.
Der Preis von knapp 20 Euro ist typischerweise unschlagbar. Die vielen Waffenbilder machen natürlich Lust darauf, sich die perfekte Knarre zusammenzuschustern und dann damit jemandem den Kopf einzuschlagen, was durch die Kampftechniken möglich wird. Die NSC sind eine nützliche SL-Ressource. Zusammen mit der rollenspielerischen Tiefe der überraschenden Kapitel lohnt sich die Anschaffung auf alle Fälle.
Der Ersteindruck basiert auf der Lektüre des Regelwerkes und den Einsatz einiger Elemente in einer bestehenden Shadowrun 6-Runde.
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