https://www.teilzeithelden.de/2020/01/10/ersteindruck-scheherazade-rollenspiel-aus-tausendundeiner-nacht/
Noch sind die Nächte lang und kalt – die beste Zeit, sich mit Fantasie (und einer Kanne Tee) in wärmere Gefilde zu versetzen. Scheherazade ist ein Rollenspielsystem für Geschichtenerzählerinnen, Märchenonkel und andere Fans von Fabeln aus dem Morgenland, das auf narratives Spiel und exotisches Flair setzt.
Europäische Sagen und Märchen sind die Hauptinspirationsquelle vieler klassischer Fantasy-Rollenspiele – an morgenländische Märchen erinnernde Szenarien kommen oft höchstens als Nebenschauplatz oder exotisches Heimatland des einen oder anderen Charakters vor. Dabei sind die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht und an sie angelehnte orientalisierende Märchen seit gut drei Jahrhunderten in Europa bekannt und sehr beliebt. Von fliegenden Teppichen, Wünsche erfüllenden Flaschengeistern, Sindbad dem Seefahrer und Ali Baba haben wir wohl alle schon einmal gehört – und viele auch eine relativ gute Vorstellung, wie sie in ein Rollenspiel-Setting einzufügen wären. Was läge also näher, als ein ganzes Rollenspielsystem darauf aufzubauen?
Die Spielwelt
Die Welt von Scheherazade ist – wenig überraschend – die der Märchen aus Tausendundeiner Nacht: angesetzt in einer phantastischen Version vom Bagdad des islamischen Mittelalters, in der die schöne Scheherazade in den Fängen des grausamen Kalifen Shahryar Nacht für Nacht Geschichten erzählt, um ihr Leben zu retten. Im Märchen ist der Kalif nach eintausendundeiner Nacht so weit besänftigt, dass er davon absieht, Scheherazade am Morgen zu töten und sie stattdessen heiratet. Das Rollenspielsetting weicht hier vom Quellenmaterial ab. In Scheherazade ist die Titelheldin in einen magischen Schlaf verfallen, und die Charaktere sollen sie retten, denn andernfalls wird das Kalifat untergehen und eine Armee böser Dschinns möglicherweise Einwohnerinnen und Einwohner heimsuchen. Letzteres wird allerdings nur angedeutet.
Der Einstieg in die Spielwelt erfolgt in Form einer Geschichte, die die Spielenden quasi mitten ins Geschehen wirft.
Diese Rahmenhandlung ist als Vorschlag für einen Kampagneneinstieg vorgesehen, jedoch ist es nicht zwingend notwendig, sich daran zu orientieren. Das Setting bietet auch eine große Bandbreite an Möglichkeiten für unabhängige One-Shots. Bagdad, die Prächtige, die im Einstiegstext kurz beschrieben wird, ist die Hauptstadt des „Kalifats des Ewigen Mondes“, eines ebenso mächtigen wie märchenhaften Reiches, das den gesamten Vorderen Orient von Ägypten bis nach Indien umfasst. Darin können geneigte Spielgruppen alles erleben, was in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht, den daran angelehnten Geschichten von Wilhelm Hauff und deren popkulturellen Adaptionen von Isnogud bis Prince of Persia vorkommt: wilde Verfolgungsjagden auf fliegenden Teppichen, Kämpfe mit bösartigen Ifriten, verschlagenen Magiern oder reanimierten ägyptischen Mumien, Schatzsuchen in den uralten Tempeln vergangener Kulturen und Ärger mit daraus resultierenden Flüchen. Alles, was in ein orientalisches Setting passt, ist erlaubt und erwünscht, historische Akkuratesse nicht zwingend notwendig. Das Setting ist als „Teen“, also „familienfreundlich“ und nicht wirklich für düstere Horrorkampagnen oder allzu realistische Szenarien vorgesehen. Die Beschreibung hält sich weniger mit Details der Welt auf, sondern verweist auf die Inspirationsquellen und appelliert an die Fantasie der Spielleitung.
Da das angesprochene Publikum wie der Autor Umberto Pignatelli eher europäischer Herkunft ist und die wenigsten Interessierten einen Hintergrund in arabischer Literaturgeschichte haben werden, bleibt das Ganze natürlich ein wenig stereotyp. Das stört erst mal nicht wirklich, könnte aber dazu führen, dass irgendwann die Ideen rar werden. Also eher eine Wahl für Kurzkampagnen, Spontanrunden und Cons – dafür eignet sich die Welt allerdings hervorragend, da nicht viel erklärt werden muss. Der Einstieg erfolgt in Form einer Geschichte, die die Spielenden quasi mitten ins Geschehen wirft: Darin führt der blinde Bettler Ali den Charakter (oder die Charaktere) durch den geschäftigen Basar von Bagdad in die größte Bibliothek der Stadt, wo sie ein geheimnisvolles Buch finden, in dem … aber davon ein anderes Mal.
Die Regeln
Scheherazade ist eine Märchenwelt, in der heroische Aktionen belohnt werden und Realismus nicht das Hauptanliegen ist. Dementsprechend ist auch das Regelsystem eher auf narratives Spiel als auf Würfelergebnisse ausgerichtet. Ein bisschen Würfeln ist allerdings schon vorgesehen. Dafür brauchen die Beteiligten je ein Dutzend W6, von denen einer als „Schicksalswürfel“ erkennbar sein muss (also etwa eine andere Farbe oder Größe haben sollte als der Rest). Er wird mit jedem Wurf mitgewürfelt und sorgt für zusätzliche Konsequenzen, unabhängig vom allgemeinen Ergebnis. Wenn er eine 1 zeigt, ergibt sich eine negative Konsequenz, bei einer 6 ein Bonus.
Gewürfelt wird mit Pools, die sich in der Regel aus zwei Attributen des Charakters berechnen. Jede 4, 5 und 6 zählt als Erfolg, niedrigere Ergebnisse als Misserfolg. Die Anzahl an Erfolgen wird mit einem Schwierigkeitsgrad verglichen, wenn dieser erreicht ist, gilt die Aktion als geschafft. Je weiter die Anzahl an Erfolgen den Schwierigkeitsgrad übersteigt, desto mehr zusätzliche positive Konsequenzen ergeben sich aus dem Wurf. Umgekehrt gilt das auch für negative Konsequenzen, wenn der Schwierigkeitsgrad weit verfehlt wurde. Bestimmte Umstände, Hilfsmittel, Beschreibungen oder Ideen können den Schwierigkeitsgrad herunter- oder heraufsetzen. In speziellen Fällen kann eine Aktion selbst dann als erfolgreich gelten, wenn sie um einen Würfel nicht erreicht wurde – dann allerdings mit einer Nebenwirkung nach Ermessen der Spielleitung.
NPC, gegen die gekämpft wird, zählen ebenfalls als Schwierigkeitslevel. Jeder Erfolg, der das Gegnerlevel übersteigt, zählt als ein „Effekt“, also entweder ein Schaden, der dem Gegner zugefügt wurde, oder eine Aktion, die die Gegenseite behindert oder zurückwirft. Die Kampfregeln sehen außerdem vor, den Schauplatz eines Kampfes in verschiedene Zonen einzuteilen, die helfen sollen, die Szene zu visualisieren. Das bietet allen Beteiligten die Möglichkeit, dramatische Beschreibungen ihrer Aktionen vorzubringen und sich miteinander abzusprechen. Dies verhindert nicht nur, dass der Kampf langweilig wird, sondern wird auch mit Boni belohnt und ist ausdrücklich erwünscht.
Ein Alleinstellungsmerkmal des Systems ist der Einsatz von Geschichten in der Geschichte. Ganz im Sinne der Erzählerin Scheherazade gibt es hin und wieder die Gelegenheit, im Spiel eine Geschichte aus der Vergangenheit des eigenen Charakters, ein Märchen oder eine Fabel zum Besten zu geben. Dies hilft nicht nur bei der Charakterentwicklung, sondern kann auch ganz konkrete Vorteile im Spiel bringen. Manche mythischen Monster lassen sich durch eine gute Erzählung besänftigen und NSC sind unter Umständen bereit, etwas Wertvolles für die Kurzweil eines spannenden Seemannsgarns einzutauschen.
Charaktererschaffung
Die Charaktere sind Heldinnen und Helden mit manchmal ganz besonderen Eigenschaften.
Charaktere in Scheherazade sind einfach erschaffen. Sie haben sechs Attribute, die bei Level 1 beginnen und mit 12 weiteren Punkten gesteigert werden können. Dabei handelt es sich um die Eigenschaften Stärke (Power), Präzision (Precision), Mut (Courage), Vorsicht (Caution), Leidenschaft (Passion) und Vernunft (Reason). Zusätzlich gibt es das Attribut Ressourcen, das die generelle finanzielle Situation des Charakters darstellt. Dieses startet ebenfalls auf 1, es gibt aber auch die Möglichkeit, die Eigenschaft „arm“ zu wählen, was bedeutet, dass der Charakter auf der Straße lebt und betteln muss, um sein Leben zu finanzieren, dafür aber einen zusätzlichen Punkt für andere Attribute bekommt. Aus den Attributen errechnen sich die Würfelpools für alle gewürfelten Aktionen.
Dazu wird ein grundsätzliches Konzept des Charakters gewählt – etwa „Seemann“, „Fakir“, „Amazonenkriegerin“ oder Ähnliches – und passendes Equipment ausgewählt. Jeder Charakter bekommt außerdem ein besonderes Talent. Dieses kann ganz individuell gestaltet werden, solange es mit der Spielleitung abgesprochen ist. Immerhin sind die Charaktere die Heldinnen und Helden eines Märchens, und diese haben manchmal ganz besondere Eigenschaften. Dennoch ist das Powerlevel am Anfang eher niedrig – schließlich soll das Abenteuer der Charaktere hier erst beginnen und gute Ideen sollen ohnehin wichtiger sein als riesige Würfelpools.
Erscheinungsbild
Orientalisch, ornamental und ein bisschen comicartig lässt sich der Stil beschreiben, den Zeichnerin Sara Valentino für die Illustrationen des Regelbuches gewählt hat. Das Cover schmückt das Gesicht der titelgebenden Scheherazade vor dem Hintergrund des Mondes über Märchen-Bagdad. Der Großteil der Bilder im Buch zeigt Figuren, die im Setting als SC oder NSC vorkommen könnten – heilige Kriegerinnen, edle Beduinen, verführerische Odalisken, bitterböse Großwesire und mehr. Natürlich kommen dabei auch Monster aller Art und andere mögliche GegnerInnen vor. Der witzige Zeichenstil unterstreicht die heitere Stimmung des Settings und erinnert ein wenig an die TV-Serie Aladdin.
Das generelle Layout bleibt dem orientalischen Stil treu. Der Bildrand, Titelseiten und einige Überschriften sind in satten Farben und Mustern, die an Orientteppiche und arabische Architektur erinnern, gestaltet, der Hintergrund der Fließtexte ist sandfarben wie die syrische Wüste. Die gewählte Schriftart scheint ein Kompromiss dazwischen zu sein, diesen Ornamentstil zu komplementieren und dabei noch gut zu lesen zu sein, allerdings wäre es mir persönlich lieber gewesen, wenn man hier der Lesbarkeit stärkeren Vorzug gegeben hätte.
Die Inhaltsangabe des PDFs verlinkt auf die jeweiligen Seiten, Verweise auf andere Seiten im Fließtext sind allerdings nicht verlinkt. Das Dokument ist durchsuchbar.
Fazit
Selten habe ich ein neues Rollenspielsystem so gerne ganz durchgelesen wie dieses. Scheherazade richtet sich ganz klar an Menschen, die gerne Geschichten erzählen oder erzählt bekommen.
Auf ungefähr 170 Seiten ist das Grundregelwerk eher kurz, was vor allem daran liegt, dass die Spielwelt nicht in zu ausufernden Details beschrieben wird. Der Autor verlässt sich darauf, dass wer an diesem System interessiert ist, genug Kenntnis des Quellenmaterials hat, um daraus mit Fantasie eigene Geschichten zu stricken. Das Regelsystem ist einfach und favorisiert narratives Spiel über Würfelorgien. Charaktere sind Ruckzuck erstellt. Eine Besonderheit, die Scheherazade von anderen Rollenspielen absetzt, ist der Einsatz von Geschichten. Sie können für gewisse Vorteile im Spiel eingesetzt werden und fördern dabei Charakterspiel und die Ausgestaltung der Spielwelt.
Der Eindruck, der vom ersten Lesen und Anspielen des enthaltenen Abenteuers zurückbleibt, ist der eines kleinen, aber feinen Rollenspiels, das sich nicht unbedingt für dauerhafte Runden eignet – außer vielleicht bei knallharten Fans orientalischer Märchen – aber für Cons oder spontane Spielabende eine schöne Ergänzung darstellt.
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