http://www.teilzeithelden.de/2013/12/11/rezension-shadowrun-krisenzonen/
So sehr man sich als Runner in Seattle auch wohlfühlen mag und sich ausgelastet fühlt – manchmal zieht es einen aus den unterschiedlichsten Gründen doch in die Ferne. Ob es nun die Suche nach dem ultimativen Kick oder die nach dem ultimativen Reichtum ist, ob man sich eine Weile in Deckung begeben muss oder was einen sonst so antreiben mag: Krisenzonen bietet Alternativen.
Inhalt
Das Quellenbuch lässt sich grob in vier Blöcke unterteilen: Chicago, Lagos, der „Rest“ und Spielinformationen.
Dabei ist gleich das erste Kapitel rund um Chicago am spannendsten zu lesen. Einsteiger bekommen einen gut verpackten Abriss der Ereignisse in der Geschichte der Windy City, der auch alte Hasen gut zu unterhalten weiß. Zudem wird die Geschichte der Stadt ein Stück weitergeschrieben.
Hat sich Bug City von den Ereignissen 2055 erholt? Und wie eigentlich? Krisenzonen berichtet vom Einsatz von FAB-III-Bakterien zur Reinigung Chicagos, von den Problemen durch anhaltend hohe Hintergrundstrahlung, die Manasenke und in Starre befindliche Insektengeister. Verschiedene Warlords konkurrieren miteinander in einer Stadt, in der der Tauschhandel eine neue Blütezeit erlebt, in der jedoch zugleich das Geschäft mit Drogen aller Art, Medtech und Organen floriert.
Das Kapitel stellt die gegenwärtige Situation von Chicago in den 2070er Jahren vor, erzählt von Gangs und Stämmen wie der Ghoul Liberation League, den Swamp Thangs und der Orphanage, wirft einen Blick auf die einzelnen Distrikte der Stadt vom Korridor bis zur Noose mitsamt Anziehungspunkten wie Bars und tatsächlich noch oder wieder existenten Restaurants, und es bietet sogar recht detaillierte Informationen über das Ökosystem dieses Chicagos mitsamt Paraflora und –fauna.
Während zumindest der langjährige Runner in diesem Kapitel auf etliche Vorkenntnisse zurückgreifen kann, ist Lagos eher neues Gebiet.
Nicht minder spannend berichtet Krisenzonen von Afrikas größtem Sprawl, seinen Gefahren, seiner Vermüllung, der Diskrepanz zwischen Dekadenz und Armut, zwischen Sumpf und Magie. Auch in diesem Kapitel erfährt man viele Details über vorherrschende Stämme und Sprachen, über Währungen und Fortbewegungsarten, über einzelne Bereiche von Lagos.
Das Kapitel über Lagos macht an dieser Stelle jedoch noch nicht Halt. Nachdem man sich die Stadt selbst genau ansehen konnte, wird der Blick weitschweifiger. So erfährt man noch etliches über das direkte Umland, jedoch ebenso über die umgebenden Länder. Ob nun Asante oder Asamando – die Beschreibungen erstrecken sich bis hin zu Tunesien, Ägypten, Kenia und Marokko.
Einerseits ziemlich interessant und mit einigem Mehrwert verbunden, wirkt das Lagos-Kapitel im Vergleich zum vorherigen dennoch an einigen Stellen etwas schwächer, und auch Wiederholungen fallen einem öfter ins Auge. Mit etwa fünfzig Seiten dem Chicago-Kapitel her sehr ähnlich, hätte man bei Lagos auf etwa zehn davon gut verzichten können.
Wirklich schwach wird es jedoch mit dem dritten Block des Buches, den ich eingangs bereits als „Rest“ bezeichnete. Bogotá in Kolumbien, GeMiTo als flächendeckende Fusion von Mailand, Genua und Turin, Genf als eine von Technomancern verursachte Hölle, Sarajevo als Leben am Höllenschlund und Karavan, die Stadt, die keine ist, sondern sich vielmehr die „Seidenstraße 2.0“ entlang bewegt – sie alle sorgen nicht gerade für Aha-Effekte.
Die Idee einer herumziehenden Gruppe beispielsweise hat man im Buch, wenn logischerweise auch lokal sehr begrenzt, bereits im ersten Kapitel zu Chicago aufgegriffen, so dass Karavan am Ende desselben ein wenig blass wirkt. Lediglich Genf bietet einige interessante Abenteueraufhänger, die dem Spiel mit Shadowrun wirkliche neue Würze verleihen können. Alles andere sind, nun ja, Städte eben. Städte mit der einen oder anderen Geschichte. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Das letzte Kapitel, Spielinformationen, weiß dann jedoch nochmals zu überraschen. Interessanterweise finden sich hier lediglich Abenteuerideen — irgendwo zwischen Plothook und Ausarbeitung hinsichtlich ihres Detailgrades — zu Chicago und Lagos. Alles andere fand man dann wohl auch selbst nicht so spannend. Zuvor jedoch bekommen Spielleiter konkrete Hinweise an die Hand, wie sie selbst eine Krisenzone, einen Sprawl oder eine sehr viel kleinere Stadt — irgendwo im Nirgendwo — errichten können. Man erfährt, worauf man achten sollte, und dieser sandboxige Ansatz gibt dem Buch auf jeden Fall einen kleinen Pluspunkt.
Preis-/Leistungsverhältnis
Die ersten 55 Seiten zu Chicago rechtfertigen eigentlich schon den Kauf des Buches. Selbst wenn man die überflüssigen Inhalte zu Lagos grob ausfiltert und damit bei 50 Seiten zum afrikanischen Sprawl wäre, machen diese Inhalte zusammen genommen die nachfolgenden Schwächen wieder wett. Lediglich etwas mehr als 30 Seiten würde ich als eher überflüssig ansehen; andererseits befinden sich unter diesen auch die ansatzweisen Sandbox–Empfehlungen für das Buch, was das Ganze wiederum aufwertet. Summa summarum ist der Quellenband sein Geld also definitiv wert.
Erscheinungsbild
Bei der Printversion handelt es sich um ein solides Hardcover mit vollfarbigem Umschlag, ansonsten weisen die 130 Seiten des Buches die übliche übersichtliche Abgrenzung von allgemeinem Fließtext, Shadowtalk und speziellen Informationen sowie reichlich Schwarzweiß-Zeichnungen auf.
Die PDF-Version entspricht der Printversion, besondere Merkmale wie ein anklickbares Inhaltsverzeichnis sucht man allerdings vergeblich.
Fazit
Empfehlenswert ist dieser Quellenband in erster Linie für Chicago-Fans und bietet für diese auch reichlich neue Inhalte, ohne dabei den eventuellen Neueinsteiger im Regen stehen zu lassen. Auch die Beschreibungen von Lagos sind reizvoll, lediglich bei den sonstigen Stadtvorstellungen zeigt das Buch deutliche Schwächen.
Die Qualität ist gut – sieht man einmal von den üblichen Rechtschreibfehlern ab, die man aus der Reihe bereits kennt –, der Preis angemessen. Und als Bonus bekommt man noch konkrete Hinweise, wie man selbst eine Krisenzone für Shadowrun (oder andere Settings) erschaffen kann – also ein gelungenes Werk.
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