Die Zahl der Fate-Kampagnensettings wächst beständig und deckt die verschiedensten Genres ab. Warum also nicht mal richtig düsteren Cyberpunk mit einer gehörigen Prise Weltuntergang? Ein italienisches Rollenspiel kommt dieser Idee nach und stützt sich dafür auf eine starke, japanische Vorlage.
Das Genre Cyberpunk hat seit seiner Entstehung in den 1980ern schon viele Facetten und Spielarten dazubekommen. Auch die japanische Manga- und Animekultur hat verschiedenste Beiträge dazu geleistet. Eine dieser auch hierzulande etwas bekannteren, dystopischen Zukunftsvisionen ist Blame!, ein Manga aus der Feder von Tsutomu Nihei.
Diese beklemmende, düstere Mischung aus Cyberpunk und Endzeit, angefüllt mit künstlichen Wesen, durchgedrehten KIs, klaustrophobischen, riesigen Gebäudestrukturen und einer Menschheit vor dem Untergang, diente als Vorlage für das italienische Spielestudio Black Box Games.
Die Spielwelt
Die Welt von Evolution Pulse vermittelt an allen Ecken und Enden den Stil seines großen Vorbildes, stellt den Hintergrund jedoch auf eigene Füße.
Im Jahre 2917 findet man in einer unterirdischen, von einer unbekannten Zivilisation erbauten, Anlage in der Antarktis eine kleine Kiste, die als Black Box bezeichnet wird. Nach einigen Jahren öffnen Wissenschaftler das Artefakt eher aus Zufall und ändern damit das Schicksal der Menschheit für immer. Die Realität beginnt sich auf der subatomaren Teilchenebene zu ändern und versinkt im Chaos. Wie zu spät erkannt wird, hielt die Black Box wohl das Gefüge der menschlichen Realität zusammen. Nun sind es die Herzschläge jedes einzelnen Menschen, welche die Ordnung der Welt beeinflussen und bestimmen.
In Folge der ständigen Änderungen, entstehen kleine Mengen an negativer Materie. Erreicht diese eine kritische Masse entsteht ein Hekath. Diese Wesen, welche die unterschiedlichsten, alptraumhaften Formen annehmen können, verschlingen weitere Materie, um so noch mehr negative Materie zu erzeugen.
Manche Exemplare entwickeln sich weiter und erlangen ein richtiges Bewusstsein. Diese γ-Hekath sind die größten Antagonisten der Menschheit. Denn sie jagen und töten die Menschen nicht wie die einfacheren Formen, sondern machen sie zu Sklaven, um die Produktion der Antimaterie aufrechtzuerhalten und immer mehr ihrer eigenen Artgenossen zu erzeugen.
Innerhalb kürzester Zeit sieht sich die Menschheit einer Invasion dieser Wesen gegenüber.
Das einzige, was sich zwischen die Invasoren und die Menschen stellt, sind drei KIs: Nirvana, Eden und Olympus. Diese errichten so genannte Safezones und versuchen dort die Menschen so gut es geht zu beschützen. Zu diesem Zweck werden die Exekutors erschaffen. Jedoch geht jede KI hier ihren eigenen Weg.
Nirvana erschafft die Proxies. Dies sind Klone der eigentlichen Einwohner ihrer Safezone, mit Zugang zu einem weltweiten Computernetzwerk, aus dem sämtliches Wissen der Menschheit, und im Notfall sogar physische Waffen, heruntergeladen werden können.
Die durch Eden geschaffenen Hyonoses sind der in eine physische Form heruntergeladene Wille eines Menschen. Dies macht ihre Körper zwar unanfälliger gegen Schaden, ihr Bewusstsein ist jedoch ein eher fragiles Gebilde.
Hydrahs schließlich sind von der KI Olympus zu Cyborgs umgebaute Menschen. Durch diesen Prozess haben sie zwar ihre Fähigkeit verloren, die Realität zu ändern, können sich aber jederzeit mit Hilfe der sie umgebenden Technik modifizieren und reparieren. Eine in den Augen der KIs ungewisse Rolle spielen die Obscura. Dies sind Menschen, deren DNS zu großen Teilen durch Hekathzellen korrumpiert wurden. Nicht nur sind sie dadurch in der Lage, ihren Körper zu verändern. Sie spüren die Präsenz der Hekath und werden von den einfacheren Wesen ignoriert.
Diese vier, doch sehr unterschiedlichen Arten von Exekutors durchstreifen nun also im Jahr 3124 die Erde. Und diese hat sich bereits schon vor den katastrophalen Ereignissen maßgeblich verändert. Gigantische Megastädte haben sich fast auf dem gesamten Planeten ausgebreitet, die nun, durch den Lauf der Jahrzehnte und die Änderungen der Realität, eine urbane Wildnis darstellen. Immer wieder finden sich Siedlungen von so genannten LostHs. Menschen, die außerhalb der Safezones leben. Diese zu Beschützen und, sofern ihre DNS nicht zu stark korrumpiert ist, in die Sicherheit der KI-Städte zu bringen ist eine der hauptsächlichen Aufgaben der Exekutors.
Insgesamt ist der Hintergrund manchmal etwas wirr und vor allem doch sehr abgefahren. Eigentlich wäre so etwas durchaus anzukreiden. In diesem Fall trifft es jedoch schlicht den Nerv der Vorlage und schafft Freiräume die mit den eigenen Geschichten gefüllt und erklärt werden können.
Die Regeln
Evolution Pulse verwendet die Regeln für Turbo Fate und Fate Core ohne nennenswerte Änderungen. Die Kenntnis der jeweiligen Regeln wird vorausgesetzt und die grundlegenden Konzepte werden auch nicht ausgeführt. Man benötigt also zwingend die beiden zu Grunde liegenden Regelwerke.
An mehreren Stellen wird deutlich auf ein fundamentales Konzept von Fate hingewiesen. Nämlich die gemeinsame Ausgestaltung der Spielwelt und die Rolle der Charaktere darin. Hierfür wurden sieben Fragen entworfen, die sowohl individuell, als auch gemeinsam als Gruppe, beantwortet werden. In anderen Spielen zählt so etwas als schmückendes Beiwerk, in einem Fate-Regelwerk ist es allerdings klarer Teil der Regeln.
Generell geht das Buch sehr gewissenhaft auf jeden Regelbestandteil ein, setzt einen gewissen Rahmen dafür und erläutert gleichzeitig, wie man diesen Rahmen verändern kann. Dies reicht von Fate-Standards, wie Stunts, bis hin zu der durchaus abgedrehten Fähigkeit jedes Charakters, die Realität um sich zu verändern. Gerade diese Fähigkeit treibt die Flexibilität des Systems auf die Spitze, gibt jedoch auch direkt Mechaniken an die Hand, die allzu großes Schindluder damit eindämmen. Denn jede Änderung der Realität macht die allgegenwärtigen Hekath stärker.
Charaktererschaffung
Hier nimmt das Buch die größte Änderung an den sonst üblichen Fate-Regeln vor. Statt sich frei einen Charakter zusammenzubauen, wählt man einen von vier Archetypen. Diese sind die bereits erwähnten vier Arten von Exekutors. Der Archetyp bestimmt die sechs Methoden des Charakters und übernimmt damit eine Mechanik die man aus Turbo Fate kennt. In Evolution Pulse darf man dann eine +4, zweimal +3 und dreimal +2 auf die Methoden vergeben. Wer Turbo Fate kennt, kann hier schon sehen, dass mit härteren Bandagen als sonst gearbeitet wird. Insgesamt gibt es einen Pool von 21 verschiedenen Methoden wodurch sich die Archetypen durchaus unterscheiden. Für jede einzelne dieser Methoden werden Beispiele für eine der in Fate vier möglichen Aktionen gegeben.
Die Anzahl an Aspekten und Stunts des eigenen Charakters entsprechen den Fate-Core-Regeln. Das Buch bietet für jeden Archetyp eine Reihe von denkbaren Aspekten an und eine ansehnliche Liste an passenden, vorgefertigten Stunts. Gerade Fate unerfahrenen SpielerInnen wird damit der Einstieg deutlich erleichtert und bietet dennoch genug Abwechslung, sollten zwei Personen den gleichen Archetypen wählen.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Wer mit dem geistigen Vorbild des Settings vertraut ist und Fate schon kennt, sollte tatsächlich keine Probleme haben eine spannende Geschichte für Evolution Pulse zu entwerfen. Wer jedoch Setting oder Regeln noch nicht kennt, bekommt durchaus Hilfestellungen und Wegweiser geboten. Sowohl die Hekath, als auch andere Gefahren werden beispielhaft aufgezeigt und geben Impulse für eigene Ideen und Geschichten. Es ergeht die klare Aussage, dass die noch offenen Fragen zum Hintergrund durch die Gruppe selbst beantwortet werden können und sollen. So viel Freiheit dies auch gewährt, läuft Evolution Pulse dadurch Gefahr, sich schnell abzuspielen. Die Versuchung ist nämlich doch sehr groß, gleich mit dem ersten Abenteuer oder der ersten Kampagne seine eigene Erklärung des Hintergrunds an die Spielerinnen und Spieler zu bringen.
Da sich Hintergrund und Regeln beständig abwechseln, kann es manchmal etwas schwierig sein auf Anhieb bestimmte Dinge zu finden. Durch den Fate innewohnenden Fokus auf die erzählerische Seite der Geschichte, kommt man jedoch nur selten in die Verlegenheit wirklich etwas in den Regeln nachschlagen zu müssen.
Spielbarkeit aus Spielersicht
Auch hier gilt, wer Fate schon kennt, findet sich ohne Mühe zurecht. Aspekte und Stunts funktionieren wie gewohnt. Die Archetypen und die damit verbundenen Methoden könnten sich für eingefleischte Fans vielleicht nach einer Einschränkung anfühlen, geben dem System jedoch eine individuelle Note und tragen auch einen Teil des Hintergrunds. Trotz der kleinen Auswahl an Archetypen, lassen sich dank der Aspekte, Methoden und Stunts durchaus sehr individuelle Alter Egos erschaffen. Sogar eine Gruppe aus gleichen Archetypen sollte so realisierbar sein.
Selbst für Fate, das ja doch eher für die großen Geschichten gedacht ist als für die kleinteilige Realitätssimulation, fühlen sich die Charaktere mächtig an und treffen so genau den Nerv des Settings. In einer so lebensfeindlichen, dem Untergang nahen Welt braucht es solche Übermenschlichkeit.
Erscheinungsbild
Die 186 Seiten sind eine wahre Freude. Das Layout ist übersichtlich gestaltet und ermöglicht einen angenehmen Lesefluss. Weiterhin macht es sehr deutlich, dass sich künstlerische Ausgestaltung und Lesbarkeit nicht ausschließen müssen. Jede einzelne Seite ist auf irgendeine Art und Weise künstlerisch gestaltet und erzeugt so bereits beim Lesen eine gewisse Immersion. Kleinere Schwächen in der Übersetzung ins Englische trüben hier die Freude kaum.
Und spätestens beim eigentlichen Artwork ist nicht mehr zu verleugnen, dass Evolution Pulse zu großen Teilen eine Hommage an Tsutomu Nihei und sein Schaffen ist. Daniel Comerci, der Zeichner von Black Box Games, trifft den Stil der Mangas auf das i-Tüpfelchen genau.
Das PDF ist vorbildlich aufbereitet und verfügt von sich aus über eine gut eingeteilte Lesezeichenstruktur, die eine schnelle Navigation ermöglicht. Hier könnten sich größere Verlagshäuser der Szene durchaus einmal ein Beispiel nehmen.
Bonus/Downloadcontent
Evolution Pulse kommt von Haus aus mit einem zusätzlichen Anhang, der einem ermöglicht, statt durch einen Exekutor mit einer Gruppe von drei normalen Menschen am Tisch vertreten zu sein. Ein interessanter Ansatz, der jedoch zurecht als Zusatz, nicht als Standard, im Regelwerk ist.
Weiterhin gibt es ein kostenloses Preview, um sich vorab selbst ein Bild machen zu können.
Fazit
Evolution Pulse kann man sich aus zwei unterschiedlichen Richtungen nähern. Entweder man ist Fate-SpielerIn und stets auf der Suche nach neuen Kampagnensettings oder man liest gerne die Mangas von Tsutomu Nihei, allen voran Blame!.
Auf der Regelseite werden keine gigantischen Änderungen an den grundsätzlichen Mechaniken von Fate vorgenommen. Die spielbaren Charaktere in vier verschiedene Archetypen einzuteilen, dürfte gerade Neulingen im System eine willkommene Hilfe sein. Der Kniff, auf eine Fertigkeitenliste zu verzichten und stattdessen jeden Archetyp mit einem eigenen Satz von Methoden, wie sie in Turbo Fate verwendet werden, auszustatten, hält die Charaktererschaffung schnell und schlank. Dennoch bleiben genug Möglichkeiten, einen eigenen Charakter zu erschaffen, der sich von denen der MitspielerInnen unterscheidet.
Die restlichen Regeln werden alle in Bezug auf das Setting beleuchtet und mit hilfreichen Vorschlägen und Ideen versehen. Auch in Fate unerfahrene SpielleiterInnen erhalten damit sinnvolle Unterstützung.
Hat man noch nie einen der erwähnten Mangas gelesen, oder den vor kurzem auf Netflix erschienen Film gesehen, stellt der Hintergrund vielleicht den einzigen Stolperstein dar. In manchmal etwas verwirrender Weise wird ein düsteres, dystopisches Zukunftsbild gezeichnet. Wer die Vorlagen zumindest ein wenig kennt, findet sich schnell zurecht. Alle anderen müssen sich in dieser Menagerie an Materie verschlingenden Monstern, Cyborgs, KIs und Klonen erst ein wenig orientieren, bis der Funke vollkommen überspringen kann.
Wer also beide Richtungen kennt, sollte auf jeden Fall zugreifen.
Kommt man nur aus einer der Richtungen, sollte man auf jeden Fall einen genauen Blick auf Evolution Pulse werfen.
https://www.teilzeithelden.de/2018/10/02/rezension-evolution-pulse-dreamlord-press/
|