https://www.teilzeithelden.de/2019/02/02/rezension-polaris-in-der-tiefe-des-meeres-ist-nicht-alles-friedlich/
Eine Zukunfts-Dystopie, die in den Tiefen der Ozeane spielt. Stadtstaaten, politische Verwicklungen, unerklärliche Fähigkeiten, verlorene Technologie und natürlich: U-Boote! All das bietet das französische Rollenspiel Polaris. Wir haben einen Blick auf die englische Übersetzung geworfen, um zu sehen, ob das Spiel hält, was der Hintergrund verspricht.
Das Grundregelwerk von Polaris erstreckt sich über zwei Bücher, welche auf DriveThruRPG angeboten werden. Die beiden Bücher gehören zusammen, und in der Printausgabe werden sie auch zusammen im Schuber verkauft. Insofern erscheint es etwas verwunderlich, dass DriveThruRPG die PDFs einzeln zum Kauf anbietet. Diese Rezension behandelt das komplette Regelwerk.
Das erste Buch beinhaltet die komplette Spielwelt sowie die Charaktererschaffung. Am Ende erfolgt noch eine Einführung in die Grundregeln. Das zweite Buch beinhaltet die komplette Ausrüstung, Fahrzeuge, das Bestiarium, erweiterte Regeln und jede Menge Optionen.
Die englische Übersetzung liest sich bei beiden Büchern angenehm flüssig, was bei Übersetzungen aus dem Französischen nicht immer der Fall ist.
Die Spielwelt
Nach einer nicht näher beschriebenen Katastrophe hat sich die Menschheit wieder in die Meere zurückgezogen. Wann dies stattfand, wird ebenso im Unklaren gelassen wie die Frage, ob die Menschen überlebt haben oder von Genetikern mit übernatürlichen Kräften wieder neu erschaffen wurden. Die Genetiker selbst gelten als ausgelöscht, seit sich die Azure Alliance formiert hat, um die Menschheit von deren Herrschaft zu befreien. Trotzdem sollen sich noch einzelne Genetiker versteckt halten – aber von denen kennt man nicht mehr als den Namen. Nach dem Sieg zerfiel die Azure Alliance in einer Reihe von Kriegen. Zurück blieb die Welt, in der Polaris spielt.
Die moderne Welt hat mit einigen harten Einschränkungen zu kämpfen, mal abgesehen von dem Fakt, dass die Bewohner nahezu alle unter Wasser leben. Im Laufe der Zeit ist viel Wissen verlorengegangen, sodass zwar einiges an Technik vorhanden ist, aber nur noch wenige exakt wissen, warum diese Technik funktioniert. Außerdem hat ein Großteil der Menschheit ihre Fruchtbarkeit verloren. Einige Städte halten deshalb die wenigen noch fruchtbaren Personen in „Hausarrest mit allen Annehmlichkeiten“. Fruchtbar zu sein und dies nicht zu melden, ist ein Verbrechen. Die großen Konzerne versuchen, die Ursache für die Unfruchtbarkeit zu ergründen und ein Gegenmittel zu finden, wobei sie auch vor Experimenten am unfruchtbaren Teil der Bevölkerung nicht zurückschrecken.
Namensgebend für das Rollenspiel ist der Polaris-Effekt. So nennen sich Psi-Kräfte, die ein wenig vom Warhammer-Universum beeinflusst scheinen. Seine Anwender können unglaubliche Dinge vollbringen, aber dabei auch unglaubliches Tohuwabohu anrichten. Der Einsatz kann für Anwender und Umstehende durchaus tödlich enden. Zudem haben die Anwender Zugang zu einer Paralleldimension, für den Fall, dass ihnen ihr normales Leben mit dem Polaris-Effekt noch nicht kompliziert genug ist.
Ein vorgefertigter Charakter, Seite 1 Ein vorgefertigter Charakter, Seite 2
Das Setting an sich ist sehr beeindruckend beschrieben, ruft aber an der einen oder anderen Stelle Verwunderung hervor, sobald es an die Wissenschaft dahinter geht. Der Autor beschreibt selbst, dass er sich anfangs eher auf die möglichen Geschichten als auf die Wissenschaft konzentriert hat, und mit Letzterer bei der Überarbeitung etwas Hilfe von außen hatte. Trotz des Fantasy-Charakters der Welt scheint es hier keinen roten Faden zu geben, was die Menschen noch bauen können und was nicht mehr. Freunde der Wissenschaft sollten beispielsweise nicht allzu sehr über den Themenkomplex „Salzwasser und Süßwassergewinnung“ und alles, was da dranhängt, nachdenken. Auch ist verwunderlich, wie die Menschen tagtäglich eingesetzte Technologien oder deren Voraussetzungen vergessen konnten.
HUMANKIND WAS BORN IN THE SEAS AND IS NOW COMING BACK HERE TO DIE.
– Vulrick the Mad, einer der namentlich genannten Genetiker (Zitat vom Buchrücken)
Die Regeln
Die Regeln von Polaris sind sehr einfach. Gewürfelt wird mit einem W20 unter einen modifizierten Wert. Eine 1 ist immer ein Erfolg, eine 20 immer ein Patzer. Wenn gegeneinander gewürfelt wird, gewinnt der höhere Wurf, der kein Fehlschlag war.
Der Spielleiter kann auch entscheiden, nicht würfeln zu lassen. Dann wird der Modifikator direkt mit dem Fertigkeitswert verglichen, um abzuschätzen, ob der Charakter etwas vollbringen kann oder nicht.
Initiative im Kampf ist statisch und bestimmt sich aus dem Basiswert und einem von der geplanten Aktion abhängigen Modifikator. Treffer und Schaden benutzen eine Kombination aus Wundschwellen und Trefferzonen, wodurch auch einzelne Körperteile zerstört werden können.
Der Polaris-Effekt wird eingesetzt, indem man ihn erst ruft und dann formt. Dies sind zwei Aktionen mit eigenen Würfen. Scheitert der erste, gibt es einen Backslash mit allen möglichen zufälligen Auswirkungen. Scheitert der zweite, oder wird der Anwender durch irgendetwas unterbrochen, passiert einfach nichts. Nach dem Einsatz muss der Anwender einen Schock-Test würfeln, um zu sehen, ob der Polaris-Effekt ihn kurzzeitig ausschaltet.
Charaktererschaffung
Polaris-Charaktere haben acht Attribute mit je einer „Natural Ability“, ähnlich dem Attributs-Modifikator von D20-Spielen wie beispielsweise Pathfinder, und einen Glückswert. Diese Werte werden mit Punkten gekauft, beziehungsweise im Falle des Glückes vom Spielleiter zugewiesen. Danach bekommt man neue Punkte, von denen diverse Vor- und Nachteile und auch Mutationen gekauft werden können. Dann beginnt die eigentliche Arbeit.
Ein Großteil des Charakterbogens steht für Fertigkeiten zur Verfügung, und davon gibt es buchstäblich hunderte. Die Fertigkeiten selbst sind hoch spezialisiert, und teilweise braucht man mehrere Spezialisierungen, um die Fertigkeit überhaupt vernünftig einsetzen zu können. Die Fertigkeitswerte bestimmen sich aus einem Basiswert und dem erlernten Rang. Die Ränge bekommt der Charakter durch seinen Werdegang. Ein paar Tabellen liefern seine Vorkenntnisse, dann folgen die Berufe, in denen er bereits gearbeitet hat: Für einen Charakterpunkt hat der Charakter ein Jahr in einem Beruf gearbeitet. Für jedes Jahr erlernt er Fertigkeiten auf Basis dieses Berufes.
Der Mercenary als Beispiel für einen Beruf
Der Mercenary als Beispiel für einen Beruf
Dabei sind Voraussetzungen zwischen den Berufen zu beachten. Pro Jahr in dem Beruf darf man aus den gebotenen Fertigkeitsverbesserungen auswählen. Dabei muss man wiederum ein Auge darauf haben, dass manche Fertigkeiten nur in bestimmten Berufen überhaupt angeboten werden. Und man muss ein Auge auf die schon erreichten Fertigkeitswerte halten, denn diese werden mit zunehmender Höhe auch teurer. Zusätzlich bekommt man pro Jahr noch spezielle Berufsfähigkeiten, welche wieder ein Blättern im Buch erfordern. Man wünscht sich hier das Hardcover-Buch, in das man Klebezettelchen auf die gerade relevanten Seiten kleben kann.
Die Charaktererschaffung erinnert in ihrer Komplexität an Das Schwarze Auge und dauert auch in etwa so lange. Allerdings kommen auch sehr gut abgerundete Charaktere dabei heraus. Diese werden im Zuge der Charaktererschaffung auch stark in der Welt verankert, weil sie beispielsweise Kontakte, Gegner, Fahrzeuge, Werkstätten oder anderes ansammeln können.
Für einen schnelleren Einstieg stehen mehrere vorgefertigte Charaktere zur Verfügung. Diese sind allerdings auch nicht spielbar, ohne sich erst einmal in sie einzulesen und beispielsweise zurückzuverfolgen, welcher Wert jetzt woher kommt.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Es macht Spaß, sich in die komplexe Spielwelt hineinzudenken. Die Vermischung von Technik, Psi (Polaris-Effekt) und Endzeit bildet eine gute Basis, und die Geflechte zwischen den politischen Gruppierungen bieten viel Stoff für interessante Abenteuer.
Die Charaktererschaffung liefert die Vorgeschichte der Charakter direkt mit und gibt dem Spielleiter viele Ansatzpunkte für spätere Abenteuer.
Das Core Rulebook 2 bietet viele Regeln für Ausrüstung. Diese sind direkt bei den jeweiligen Ausrüstungsgegenständen angeordnet und damit leicht zu finden, was zum Nachschlagen beim Spiel nützlich ist. Die Ausrüstung ist in verschiedene Tech-Level unterteilt, da nicht alle Enklaven der Menschheit gleich viel Technologie bewahrt haben. Gleiches gilt für Fahrzeuge, Waffen und Rüstungen. In vielen Fällen lohnt sich der Blick in diese Kapitel auch schon während der Charaktererstellung, damit man weiß, welche spezialisierten Fertigkeiten die Spieler benötigen, um die angestrebten Besitztümer auch nutzen zu können.
Außerdem bietet das zweite Buch eine gute Auswahl an Crittern, von einfachen Geschöpfen bis hin zu Monstern, bereit, auf die Spielercharaktere losgelassen zu werden.
Spielbarkeit aus Spielersicht
Die komplexe Charaktererschaffung hat Vor- und Nachteile. Die Spieler kommen bei der Charaktererschaffung mit vielen Teilen der Spielwelt in Berührung, und der Charakter wird fest in der Welt eingebettet. Dafür kostet sie aber leider auch viel Zeit. Am besten ist es, wenn sich der Spielleiter mit jedem Spieler einzeln für die Charaktererschaffung trifft und den Charakter zusammen mit dem Spieler ausformt.
Das Spiel selbst geht schnell und flüssig, allerdings ärgert man sich hier und da, wenn dem Charakter eine spezielle Fertigkeit fehlt, von der man dachte, sie sei durch eine andere mit abgedeckt, und man deshalb eine Aktion nicht ausführen kann.
Erscheinungsbild
Beide PDFs glänzen mit einem hervorragenden Layout. Der Text ist auf jeder Seite gut lesbar, Tabellen sind übersichtlich angeordnet. Die Seiten sind als Text realisiert, wodurch das Regelwerk durchsuchbar wird.
Grafisch ist Polaris ein wahrer Augenschmaus. Gedruckt gehört es zu den Regelwerken, die man sich auch nur für das Artwork ins Regal stellen kann. Die Cover sind fast schon fotorealistisch, und die Grafiken im Inneren bewegen sich zwischen realistisch und gut gemachtem Comic-Stil. Doppelseitige Karten vorne und hinten in jedem Buch helfen, sich in der Spielwelt zu orientieren. Die Grafiken schlagen sich allerdings auch in den Dateigrößen nieder: 63MiB respektive 47MiB bringen manche Lesegeräte an ihre Grenzen, vor allem, wenn man beide Bücher gleichzeitig braucht.
Leider wurde auf anklickbare Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis und auf anklickbare Verweise im Text verzichtet, sodass man hier die Sprungfunktion des Readers nutzen muss. Thumbnails und eine Gliederung in der Seitenleiste sind aber verfügbar, wenn der Reader diese unterstützt.
Bonus/Downloadcontent
Über DriveThruRPG kann ein kostenloses Quickstart-Abenteuer bezogen werden. Des Weiteren gibt es auf der Homepage von Polaris Charakterbögen zum Herunterladen.
Fazit
Polaris bietet ein komplexes und gut ausgearbeitetes Alternate-Earth-Setting, gut spielbare Regeln und eine sehr detaillierte Charaktererschaffung. Einsteigern werden gut ausgearbeitete Beispielcharaktere geboten.
Die Charaktererschaffung per PDF ist sehr holprig, da viel „geblättert“ werden muss. Die Lesezeichen, so der Reader welche anbietet, werden schnell selbst unübersichtlich und stoßen an die Grenzen der Nutzbarkeit.
Das Layout ist lesbar und funktional, die Grafik ist sehr gut und stimmungsvoll. Der Text ist komplett durchsuchbar, was bei der Charaktererstellung wiederum ein Pluspunkt ist. Die Übersetzung ist gut gelungen.
Die beiden PDFs Core Rulebook 1 und Core Rulebook 2 gehören zusammen und sollten, auch als PDF, nicht getrennt verkauft werden. Der Preis von 40 USD ist happig, bedenkt man, dass man für etwas mehr als das Doppelte bereits die Print-Ausgabe bekommt.
Ein Manko: Das Regelbuch deutet in den Texten alle möglichen Geheimnisse an, die es zu ergründen gilt – gibt dem Spielleiter allerdings keine weiterführenden Informationen, sodass er sich selbst überlegen muss, was der Genetiker mit seiner Aussage gemeint haben könnte.
Insgesamt ist Polaris ein gutes und vollständiges Basisset, allerdings sorgen der hohe Preis der PDFs sowie das zu zergliederte Fertigkeitssystem für Abzüge in der Bewertung. Die etwas mehr als doppelt so teure Printausgabe bietet ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis.
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