https://www.teilzeithelden.de/2022/04/22/rezension-wanderhome-wohlfuehlprogramm-im-idyllischen-haeth/#Fazit
Wanderhome ist kein klassisches Rollenspielsystem. Es kommt fast ohne Regeln aus und konzentriert sich auf den narrativen Aspekt. In einer Fantasy-Welt, die von Tieren bevölkert wird, erschafft man gemeinsam Orte, um sie anschließend zu bereisen. Was währenddessen geschieht, entwickelt sich meist erst während des Spielens.
In Wanderhome ist die Reise das Ziel. Deshalb ist sie auch das Äquivalent zu Wörtern wie Abenteuer oder Szenario, die andere Rollenspielsysteme nutzen. Jay Dragon, verantwortlich für den Text und Ruby Lavin, verantwortlich für das Layout, bilden zusammen Possum Creek Games. Im August 2020 waren sie mit Wanderhome, das auf der „Belonging Outside Belonging engine“ aufbaut, auf Kickstarter erfolgreich. Seit 2021 kann es als PDF oder in Buchform erworben werden. Was hat es zu bieten und für wen lohnt es sich?
Die Spielwelt
Wanderhome spielt in Hæth. Es ist ein idyllisches, aber auch mysteriöses Land mit Feldern, Wiesen, Wäldern, Türmen und Höhlen. Hier leben keine Menschen, sondern Tiere friedlich in kleinen Gemeinschaften zusammen. Sie sind vermenschlicht, laufen also auf zwei Beinen, tragen Kleidung und haben annähernd menschliche Größe. Die Insekten nehmen hierbei die Rolle von Nutztieren, Haustieren und wilden Kreaturen ein. So kümmern sich Hirten um Herden von Hummeln und Motten tragen die Post aus.
Es werden ein paar Andeutungen gemacht, dass Hæth in der Vergangenheit dunklere Zeiten erlebt hat, wie etwa einen Krieg, der seit einiger Zeit jedoch vorbei ist. Seitdem gibt es keine Gewalt mehr, sondern Friede und Eintracht unter den Bewohnern. Diese sind grundsätzlich gastfreundlich und in ihrem Wesen gut. Eine Ausnahme bilden die Mächtigen, wie Generäle oder Herrschende, deren Seelen durch die Macht korrumpiert wurden. Glücklicherweise gibt es seit Ende des Krieges nicht mehr viele von ihnen.
Wie die Welt von Wanderhome ansonsten aussieht, wer genau sie bewohnt und was in ihr passiert, ist vollkommen der Spielleitung, beziehungsweise den Spieler:innen und ihren Ideen überlassen.
Die Regeln
Wanderhome besitzt keine Regeln, wie man sie klassischerweise von einem Pen-and-Paper-System erwarten würde. Stattdessen benötigt man lediglich Stift, Papier und eine Anzahl an kleinen Dingen (etwa Münzen, Blätter oder Murmeln), die sich als Token verwenden lassen. Die Charaktere haben weder Attribute noch irgendwelche Werte, auf die gewürfelt werden müsste. Sie besitzen lediglich bestimmte Wesenszüge und erhalten von ihrem Spielbuch, also in etwa der Klasse, einige Dinge, die sie tun können.
Das Spiel konzentriert sich darauf, dass alle sich wohlfühlen und eine schöne Zeit haben. Konversation, also das Gespräch untereinander, ist hierbei das wichtigste Werkzeug. Denn in jeder Sitzung erschafft man gemeinsam einen kleinen Teil der Welt und ihrer Bewohner. Hierzu liefert das Regelwerk eine Anleitung, um Hæth Leben einzuhauchen.
Zu Beginn einer neuen Reise müssen zunächst ein paar Fragen geklärt werden. Zum Beispiel, ob man mit oder ohne Spielleitung spielt, wie lange die Reise dauern soll oder ob sie idyllisch und fröhlich oder mehr auf Trauma und Heilung konzentriert sein soll. Denn obwohl der Krieg vorbei ist, leiden manche immer noch darunter – ob physisch oder psychisch.
Anschließend entsteht der Ort, an dem man die Reise beginnt oder fortführt. Als Grundgerüst dienen hierzu sogenannte „Natures“. Diese sind in sechs verschiedene Kategorien mit jeweils sechs präziseren Orten aufgeteilt. So kann eine „Verdant Nature“ ein Sumpf, Feld oder Lagune, eine „Liminal Nature“ eine Insel, Brücke oder Straße und eine „Lonely Nature“ ein Moor, Friedhof oder Höhle sein. Aus einer Kombination drei dieser „Natures“ – die man auch metaphorisch interpretieren kann – entsteht durch die Vorschläge im Buch und die Ideen der Spieler:innen jeder Ort. Leben wird ihm eingehaucht, indem man beschreibt welchen Arten von Tieren die NSC, die hier „Kith“ genannt werden, angehören.
Für Reisen, die sich über mehrere Wochen oder Monate erstrecken sollen, werden die fünf existierenden Jahreszeiten interessant. Diese sind in jeweils drei Monate mit verschiedenen Festen aufgeteilt und werden alle mit Vorschlägen, was passieren könnte, beschrieben.
Im Spiel haben die Charaktere die Möglichkeit, Token zu generieren. Dies geschieht etwa, indem man sich einen kleinen Nachteil auferlegt, einen persönlichen Gegenstand weggibt oder die wahren Gefühle zu einem bestimmten Thema offenbart. Diese Token können dann ausgegeben werden, um sich oder der Gruppe einen kleinen Vorteil zu verschaffen oder einfach, um die Welt um sich herum noch ein bisschen besser zu machen.
Charaktererschaffung
Die Charaktererschaffung ist sehr simpel gehalten. Das Spielbuch (englisch: Playbook) stellt die Grundlage für jeden Charakter dar. Insgesamt stehen 15 zur Auswahl, zum Beispiel „Moth-Tender“, „Shepherd“ oder „Vagabond“. Das ausgewählte Spielbuch führt durch die weitere Charaktererschaffung.
Ein Beispiel
Als Spielbuch wurde „The Firelight“ ausgewählt. Ein kleiner Text beschreibt die Tätigkeit eines solchen Charakters: Mit Hilfe eines Glühwürmchens weist man anderen in der Dunkelheit den Weg.
Anschließend muss man aus verschiedenen Listen – die sich je nach Spielbuch unterscheiden – etwas auswählen, um so den Charakter zu formen. So soll man sich als Firelight für zwei Dinge entscheiden, die man versucht zu sein und zwei von denen man weiß, dass man sie nicht sein kann.
Nach einigen Vorschlägen zum Aussehen des Charakters wählt man aus, unter welchen Umständen man seinen Glühwürmchenbegleiter getroffen hat und erzählt den anderen Spielenden anschließend, welches Licht man stets entzündet lässt und welches schon lange erloschen ist.
Abschließend stellt man den Spieler:innen rechts und links von sich eine zum Spielbuch passende Frage, die eine erste Verbindung zwischen den Charakteren herstellt.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Da das Spiel es ermöglicht, fand die Testrunde ohne Spielleitung statt. Lediglich zu Beginn fungierte ein Spieler als Guide, um durch das Erschaffen der Charaktere, der Welt und des Szenarios zu führen. Dennoch wurde deutlich, dass eine Spielleitung in Wanderhome viele Freiheiten hat. Da man so viel oder wenig planen kann, wie man möchte, entfällt die Sorge, in einer Sitzung bis zu einem bestimmten Punkt der Reise kommen zu müssen. Doch da die Spieler:innen stets eigene Ideen einbringen können, wird die Planbarkeit ohnehin gesenkt, was nicht immer ein Vorteil ist.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Die durch das Buch vermittelte Welt ist vielfältig, divers und inklusiv. Sie fühlt sich idyllisch und ansprechend an, sodass man gerne Zeit in ihr verbringt. Die Tatsache, dass es keine Gewalt gibt, stellt eine erfrischende Abwechslung zu bekannten Systemen dar. Dadurch kann man sich ganz auf die Welt und die Beziehungen der Charaktere zu ihr und untereinander konzentrieren.
Die Welt wird durch beschreibende Texte, Bilder, die Spielbücher und die Fragen zu den Orten gleichzeitig vage, aber dennoch ausreichend greifbar beschrieben, sodass ein gut nutzbarer Eindruck entsteht, auf dem man alles aufbauen kann.
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
In Wanderhome kann und soll man auch als Spieler:in aktiv an der Gestaltung der Welt teilnehmen. So kann man jederzeit einen neuen NSC einführen und auch selbst beschreiben und verkörpern. Dadurch kann man der eigenen Kreativität freien Lauf lassen, sollte sich aber am Ende mit den anderen einigen können. So kann etwas völlig Unerwartetes entstehen, wenn aus zwei unterschiedlichen Vorschlägen ein Kompromiss geformt wird. Durch die großen Freiheiten erscheint die Mechanik der Token jedoch etwas überflüssig.
Dennoch wurde das Spielen ohne SL als am negativsten empfunden. Ohne sie muss man stets aufmerksam sein und Ideen beitragen, damit das Spiel nicht ins Stocken gerät. Zudem ist ständiges Improvisieren und das Beschreiben von Orten, Personen oder Ereignissen aus dem Stehgreif nicht für alle Spieler:innen leicht oder komfortabel.
Auch gibt es wenige regelseitige Anhaltspunkte, wie ein gutes Pacing erreicht werden kann oder wie Herausforderungen entstehen können. Dadurch droht das Spiel „vor sich hinzudümpeln“, wenn niemand eine Idee für etwas Größeres hat, das als nächstes passieren kann.
Spielbericht
Die Testrunde fand ohne Spielleitung statt und erstreckte sich über zwei Abende. Das Erschaffen der Charaktere und des bespielten Ortes dauerten etwa zwei Stunden, die reine Spielzeit betrug knapp vier Stunden und es wurde alles improvisiert.
Das Erschaffen des bespielten Ortes
Der bespielte Ort namens Waldhaven entstand aus einer Kombination der „Natures“ Hafen, Kloster und Markt. Waldhaven ist über einen Durchgang zu erreichen, der von zwei zusammengewachsenen Eichen gebildet wird. Dahinter erstreckt sich der zwischen Bäumen versteckte Ort. Er liegt an einem Fluss und besitzt einen Hafen. Die Schiffe können nur flussaufwärts fahren, was sie durch Treideln mittels Libellen bewerkstelligen. Flussabwärts wartet ein großer Wasserfall.
In die hohen Bäume integriert befindet sich ein Kloster, das von den verschiedensten Bären geleitet wird und in dem die Libellen trainiert werden. Weitere Bewohner sind Otter und Axolotl. Auf Höhe des Flusses befindet sich ein Markt, der von Tieren aus Nah und Fern besucht wird.
Wundersames gibt es überall zu entdecken.
Die Charaktere
Kiesel ist ein Einsiedlerkrebs im fortgeschrittenen Alter. Sie ist eine Kriegsveteranin ruhigen Gemüts und trauert um eine alte Liebe.
Ezra ist ein Adler mit einem verletzten Flügel, dessen politische Umtriebe ihn ins Exil gebracht haben. Er ist stets gut gekleidet, wirkt manchmal etwas dandyhaft, fühlt sich bei aller zur Schau gestellten Überlegenheit aber oft fehl am Platz. Noch weiß er nicht, ob er nach einem neuen Zuhause, einem neuen Klan – ob Adler oder nicht – oder nach beidem sucht.
Tarradon ist ein älterer Widder, der mit seiner Hummelherde durch die Gegend reist. Er will an seine Jugenderfahrungen anknüpfen und noch einmal interessante Orte entdecken.
Moe ist eine Fledermaus, die sich um die postzustellenden Motten kümmert. Sein wichtigstes „Paket“ welches er gerade „zustellt“ ist ein kleiner Schildkrötenjunge namens Marcel, der seine Familie verloren hat. Doch der Weg zu seinem neuen Zuhause ist weit und bis dahin genießen beide das gemeinsame Reisen.
Lucinda ist ein Flamingo mit altruistischen Zügen. Zusammen mit ihrem Glühwürmchen Steve führt sie andere sicher durch schwieriges Gelände wie dichte Wälder, Sümpfe und Moore. Sie fühlt sich dort Zuhause, wo sie anderen mit ihrem Licht helfen kann.
Aufbruch zu einer neuen Reise.
Die Reise beginnt
Nach vielen Tagen im Wald erreichen die fünf Charaktere durch das Tor der zwei Eichen Waldhaven. Sie sehen den Fluss, den Hafen mit den Booten und Libellen und schließlich das Kloster, das hoch oben in den Bäumen liegt und über hölzerne Aufzüge erreicht werden kann.
Sie werden jedoch durch eine Gruppe junger Otter abgelenkt. Einer von ihnen hat gerade eine Libelle gepackt und hält sich nun an ihr fest, während sie immer höher steigt. Schnell wird klar, dass er sich nicht mehr lange halten kann. Tarradon eilt zur Hilfe und steigt auf seine Hummel Pummel, doch sie schafft es nicht, hoch genug zu fliegen. Also schnappt Kiesel sich ein großes Stück Stoff einer Händlerin, welches sie zusammen mit Ezra und Lucinda aufspannt. Und das gerade rechtzeitig, um den jungen Otter damit aufzufangen. Er scheint jedoch vollkommen unberührt von der Situation zu sein und wendet sich fasziniert an Pummel. Tarradon lässt ihn kurz auf ihr reiten, was er anschließend begeistert seinen Freunden erzählt.
Die Charaktere wenden sich nun dem Kloster zu. Als sie oben ankommen, herrscht dort reges Treiben und es stellt sich heraus, dass die vielen Personen für eine Art Vorstellungsgespräch da zu sein scheinen. Obwohl alle fünf neugierig sind, beschließen sie, sich erst einmal für die Nacht auszuruhen und das Kloster am nächsten Tag zu erkunden.
Auf Reisen ist auch das Innehalten wichtig.
Beim Frühstück bietet ein Hamster namens Hugo ihnen einen Rundflug über den Wasserfall hinaus an. Es herrscht zwar Interesse, aber da der Ort eine eigene Währung verwendet, müssen die Charaktere zuerst etwas davon auftreiben. Tatsächlich finden sie auf dem Markt eine Händlerin, die Krimskrams und andere Währungen in die hiesige umtauscht. Schließlich wird es Zeit für die Ballonfahrt. Lucinda, die bisher nicht mitwollte, ist nach den Erzählungen der Händlerin etwas besorgt, was die Sicherheit dieser Fahrt anbelangt. Deshalb wird sie, auch zu Ezras Beruhigung, nebenher fliegen. Der Adler ist durch seinen verletzten Flügel lange nicht mehr geflogen und hat Höhenangst entwickelt.
Dann beginnt die Fahrt mit dem Ballon – der eher einem Hut ähnelt und über ein Hamsterrad angetrieben wird. Sie steigen immer höher und lassen Waldhaven hinter sich. Nachdem sie einen dichten Nebel durchquert haben, erstrecken sich vor ihnen Ruinen längst vergangener Tage. Ezra vermutet, dass die Strukturen von Adlern erbaut wurden, ist aber überrascht, sie so weit weg von Zuhause zu sehen.
Moe, der schon lange einmal wieder seine Flügel ausstrecken wollte, gesellt sich nun zu Lucinda und die beiden liefern sich ein kleines Wettrennen zwischen den Ruinen. Unterdessen steigt der Ballon einen weiteren Wasserfall nach oben, wo sie einen prächtigen Regenbogen erblicken. Kiesel erzählt Marcel, dass sich an seinem Ende Gold befindet. Die kleine Schildkröte ist begeistert davon und überredet den Hamster Hugo, dorthin zu fliegen. Und so erreichen sie eine kleine Einbuchtung im Gestein. Hugo erklärt, dass jemand anderes sich dort hineinstellen muss, damit Marcel das Gold sehen kann. Er bittet Lucinda darum, die zur entsprechenden Stelle fliegt. Dort fällt ein Sonnenstrahl auf sie herab, der ihre Erscheinung golden wirken lässt. Leider können sie nicht länger verweilen, denn die Reserven des Ballons sind fast erschöpft und sie müssen zurückfliegen.
So endet die Reise am Ort Waldhaven und kann an anderer Stelle fortgesetzt werden. Manche Charaktere werden zusammenbleiben, andere werden ihren eigenen Weg gehen.
Erscheinungsbild
Das gesamte Buch ist äußerst ansprechend gestaltet. Während die Seiten selbst in angenehm dezenten Pastelltönen gehalten sind, werden sie nie durch zu viel Text überladen. Zusätzlich dienen viele wunderschöne Zeichnungen und Bilder verschiedener Künstler:innen der weiteren Auflockerung. Da das Regelwerk sehr simpel ist, kann man sich gut zurechtfinden, was durch den Index noch weiter erleichtert wird.
Fazit
Wanderhome ist kein klassisches Pen-and-Paper-Rollenspiel. Das will und muss es auch gar nicht sein. Da sich alle Spielenden beteiligen können, während die Geschichte sich entwickelt, weiß man nie, in welche Richtung die Reise weitergeht. So wird die Welt von Wanderhome von Sitzung zu Sitzung und von Gruppe zu Gruppe immer neue Formen annehmen.
Das gemeinsame Erschaffen der verschiedensten Orte und anschließend in eben diesen zu spielen ist großartig und bietet viel Raum für Fantasie. Die große Diversität und Gewaltlosigkeit des Systems perfektionieren dieses Erlebnis.
Die größte Problematik stellt die Rolle der Spielleitung in Wanderhome dar. Ohne sie kann das Spiel leicht ins Stocken geraten, wenn nicht alle Spielenden erfahren im Improvisieren sind. Es lassen sich auch keine komplexeren Handlungsstränge aufbauen, wodurch viele Geschehnisse eher oberflächlich bleiben. Mit einer Spielleitung müssen Rahmenbedingungen gesetzt werden, um ihr eine bessere Planung der Geschehnisse zu ermöglichen.
Letzten Endes wird es vermutlich etwas Justierung benötigen, bis jede Gruppe ihren Spielstil für Wanderhome gefunden hat. Epische Kampagnen wird man in dieser Spielwelt nicht erleben, dafür aber ein warmes und herzliches Wohlfühlprogramm sowie viel Charakterspiel. Denn Wanderhome lässt sich am besten mit einem englischen Wort beschreiben: wholesome.
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